Die Phantom-Familie – Über Matthew Lansburghs »Outside Is the Ocean«

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»Last thing I remember, I was
Running for the door
I had to find the passage back to the place I was before
‚Relax‘ said the night man,
‚We are programmed to receive.
You can check out any time you like,
But you can never leave!’«

The Eagles – Hotel California (1976)

»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Der erste Satz aus Lew Tolstois Roman »Anna Karenina« könnte als Motto der Kurzgeschichten-Sammlung »Outside Is the Ocean« von Matthew Lansburgh vorangestellt werden. In fünfzehn Stories beleuchtet Lansburgh die Entwicklung einer Familie, die eigentlich gar keine ist. Zentrale Figur ist die deutschstämmig Heike, die nach dem Zweiten Weltkrieg als junge Frau in die USA auswanderte. Für einen deutschen Leser ist es durchaus spannend, dem Blick eines US-amerikanischen Autors auf seine deutsche Figur zu folgen. Eine Figur, die nicht gerade eine Sympathieträgerin ist.

Heike spricht eine Art Pidgin-Englisch, bei dem sie deutsche Worte fehlerhaft ins Englische übersetzt. Schon der erste Satz des Buches-»Al gives me zero.« – deutet dies an. Die Worte »Omi« und »Mutti« fallen mehrfach und sie singt ihrem Sohn auf Deutsch das Kinderlied »Hoppe, hoppe Reiter« vor. Heike nimmt schon mal ein Sonnenbad im Garten der Nachbarn, oben ohne und ohne Erlaubnis der erzürnten Anwohner. Sie hütet ungefragt den Hund einer Bekannten und treibt so ziemlich alle Menschen um sie herum mit ihrer freundlich-störischen und egoistischen »Ich meine es ja nur gut«-Art zur Weißglut.

Die Menschen um sie herum, das sind ihre Ehemänner, die im Laufe der Zeit wechseln – Raymond, Gerry und Al – sowie ihr Sohn Stewart und die Stieftochter ihres zweiten Ehemannes, Laurie. Es ist eine brüchige, ständig wechselnde Familie, in die Heike im Alter von 58 Jahren zudem noch eine Adoptivtochter holt. Sie nimmt Galina in ihre Familie auf, die zum Zeitpunkt der Adoption fünf Jahre alt ist. Das Mädchen aus Russland hat seine Eltern angeblich durch einen Brand verloren und verfügt nur über einen Arm. 

Matthew Lansburgh ordnet seine Kurzgeschichten, die aus den wechselnden Perspektiven der Figuren erzählt werden, nicht chronologisch an. Die Zeiten springen: Mal spielt eine Geschichte im Jahr 1993, die nächste 1967 und dann geht es ins Jahr 1976. Die letzte Kurzgeschichte des Bandes, »Buddy«, wird aus der Zukunft heraus erzählt, aus dem Jahr 2019. Die anachronistische Erzählweise entspricht der brüchigen Familie. Die Geschichten wirken wie ein unsortiertes Fotoalbum einer Familie, in dem Bilder von verschiedenen Fotografen versammelt sind.

Lektürenotizen: Matthew Lansburgh - Outside is the Ocean
Matthew Lansburgh: Outside Is the Ocean


Die Hauptfotografen – oder Hauptstimmen – sind Heike und ihr homosexueller Sohn Stewart, den sie in ihren englischsprachigen Briefen als »Mein lieber Sohn« anspricht. Die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung ist der Motiv, das die Geschichten, trotz wechselnder Erzähler und trotz der Zeitsprünge, zusammenhält. Heike hat ihre Kindheit im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs verbracht. Sie wuchs mit ihrem Bruder Dieter bei ihrer Großmutter in Süddeutschland auf. Als junge Frau schlug sie sich zunächst als »Mädchen für Alles« bei amerikanischen Familien durch. Ihre fehlende Kindheit, sie beeinträchtigt stark das Verhältnis zu ihrem Sohn. Je älter er wird, desto mehr grenzt sich Stewart von ihr ab. Dementsprechend klagt Heike über seine Lieblosigkeit, seine fehlende Dankbarkeit und sein Schweigen. Diese Mutter kann vor allem eines ganz gut: Schuldgefühle eintrichtern. So erscheint es auch wie eine Trotzreaktion, dass Heike im gesetzten Alter noch ein russisches Mädchen adoptiert, womit sie völlig überfordert ist. Galina ist störisch, aggressiv und flüchtet regelmäßig zu den Smolenskis, einer befreundeten Familie. Die Smolenskis sind nach außen eine »glückliche« Familie, Galina fühlt sich dort wohl. Später, als Galina bereits erwachsen ist, wird jedoch auch die Familie Smolenski auf sehr drastische Weise vom Unglück heimgesucht.

Die abwesenden Männer

Die brüchige, die fehlende, die unglückliche Familie – es ist das Hauptthema der Erzählungen von Matthew Lansburgh. Er zeigt in unterkühlten, distanzierten Bildern die Verletzungen auf, die sich innerhalb einer solchen Familie entwickeln und nie richtig heilen können. Er entwirft ein Biotop der Abhängigkeiten, Erwartungen und Einsamkeiten, das sich für seine Bewohner zu einer stillen Hölle entwickelt. Aus dieser Familie möchte man nur ausbrechen, so wie es Stewart tut. Lustlos studiert er an der Westküste und wird Literaturprofessor in Boston. Damit ist er weit entfernt von seiner Mutter in Kalifornien. Stewarts Sehnsüchte sind geprägt von sexueller Unterwerfung. In der titelgebenden Erzählung »Outside Is the Ocean« schildert Lansburgh einen One-Night-Stand zwischen Stewart und Tazik, einem Mann aus Nigeria. Eine Begegnung, die geprägt ist von Sado-Maso-Praktiken und von Stewart so gewollt wird:

»It is no rape. There is no force beyond that to which Stewart has, in some way, granted his consent. He doesn’t want the man to stop what he’s doing, doesn’t want it to end.«

Matthew Lansburgh – Outside Is the Ocean, S. 70

Der maskuline Tazik, er beschwört in Stewart Erinnerungen an seinen Vater Raymond herauf. Stewart hat ihn durch die Scheidung seiner Eltern früh verloren. Noch während er mit Tazik im Bett liegt, erinnert er sich: Als Junge verbrachte er seine Ferien bei seinem Vater in Colorado. Raymond nahm ihn mit auf die Jagd nach Klapperschlangen, die er häutete und seinem Kind als Delikatesse zum Abendessen servierte. Ein Bild von Männlichkeit, von dem sich Stewart so weit entfernt fühlt, als dünner, junger Mann mit schwitzenden Händen. Er, der seine Doktorarbeit über T.S. Eliot schrieb, erfüllt weder gegenüber seinem Vater noch seiner Mutter die Erwartungen, die sie an ihn stellen. Doch während die Distanz zwischen Vater und Sohn unterschwellig bleibt, hat die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn immer stärkere Auswirkungen. Die führen soweit, dass Heike in der Kurzgeschichte »Enormous in the Moonlight« einen für die Leser und Leserinnen erschreckenden Brief an ihren Sohn schreibt. Und sie sich als das erweist, was in der Gegenwartsliteratur immer wieder beobachtet werden kann: die unzuverlässige, unglaubwürdige Erzählerin. Lansburgh baut hier einen erzählerischen Trick ein, der erst am Ende des Buches in der letzten Kurzgeschichte »Buddy« aufgelöst wird.

Es ist erstaunlich wie Matthew Lansburgh es schafft, die Kurzgeschichten so miteinander zu verweben, dass man am Ende das Buch auch als Roman sehen könnte – obwohl es das rein formal nicht ist. Das Sprunghafte, das Unglaubwürdige – Lansburgh erzeugt durch seine Figuren, die er mit all ihren Unzulänglichkeiten plastisch darzustellen vermag, eine Sogwirkung, nicht nur durch die Figur der deutschen Heike. »Outside Is the Ocean« ist ein lesenswertes Psychogramm einer unglücklichen Familie, die durch die Kriegserfahrung der Mutter, durch die Abwesenheit der Männer und durch die Erfahrung des Außenseitertums in einem fremden Land geprägt ist.  Er schildert in kontrastreichen Bildern, welche Folgen und Spätfolgen der Verlust der Kindheit nach sich ziehen kann.

Jedes Familienmitglied hat darunter zu leiden und je früher der Mangel von Anerkennung, von Geborgenheit und Liebe auftritt, um so nachhaltiger und gravierender sind die Folgen. Lansburgh verdeutlicht anschaulich, wie Verletzungen der Kindheit noch bis ins hohe Alter eines Menschen nachwirken können. Soweit, dass sie zu Wahnsinn und Selbstmord führen können. Es stimmt schon: Jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich. Tragisch wird es, wenn diese Familie sich als ein Phantom entpuppt.

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Matthew Landsburgh: Outside Is the Ocean. – Iowa City : University of Iowa Press, 2017
Iowa Short Fiction Award
ISBN 978-1-60938-527-9 (Paperback)

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags ist mir leider keine deutsche Übersetzung bekannt.

Weiterführende Links

Soundtrack zum Buch

Der oben zitierte Text stammt aus dem Song »Hotel California« von der US-amerikanischen Rockband »The Eagles«. In der Kurzgeschichte »Gunpoint«, die im Jahr 1976 spielt, erwähnt Matthew Lansburgh den Song kurz und berichtet, dass »Hotel California« gerade die Charts erobert. 

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

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