Klappen-Liebe: Über Garth Greenwells »What Belongs to You«

K

»Klappen,
das sind diese kleinen, viereckigen Häuschen, 
in denen sich Homosexuelle aneinander vergnügen,
und dabei seit Jahrhunderten von blasenschwachen Otto Normalverbrauchern gestört werden.

But I think you better dance now.«

Melitta Sundström – Dietrich (1993)

Es geht in den stinkenden Untergrund: Öffentliche Toiletten gehörten viele Jahre zu den Cruising-Orten, an denen schwule Männer zwischen Pissoir und Kabine ihre Sexualität ausleben konnten. Für manche Männer waren sie der Ort, an dem sie überhaupt das erste Mal Sex erleben konnten. Es ist Zufall, dass zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Garth Greenwells Debütroman »What Belongs to You« (dt.: »Was zu Dir gehört«) im Schwulen Museum in Berlin gerade die Ausstellung »Fenster zum Klo. Public Toilets & Private Affairs« des französischen Künstlers Marc Martin stattfand. Seine Fotos fangen die Momente des Begehrens und der Heimlichkeit gekonnt ein.

Im schwulen Szene-Jargon werden die öffentlichen Bedürfnisanstalten Klappen genannt und genau eine solche Klappe ist der Ausgangspunkt in Greenwells Roman. In der öffentlichen Toilette unter dem Nationalen Kulturpalast in Sofia trifft der namenlose Ich-Erzähler den Stricher Mitko. Es ist ein warmer Herbsttag in der bulgarischen Hauptstadt, irgendwann nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Die beiden Männer haben Sex auf der Klappe, für den der Ich-Erzähler bezahlt. Aus der einmaligen Begegnung zwischen dem hübschen Mitko und dem Ich-Erzähler, ein US-Amerikaner, der als Lehrer in Sofia arbeitet, wird mehr. Der Amerikaner entwickelt ein Verlangen nach Mitko und nimmt ihn schließlich mit in seine Wohnung. Sein Begehren ist größer, als die Furcht vor möglichen Übergriffen durch den kräftigen Stricher. Mitko ist fasziniert von all den elektronischen Geräten, die sein Freier besitzt, während dieser vor allem Gefallen an Mitkos Körper findet. Es entwickelt sich eine Beziehung, geprägt von Abhängigkeit, Verlangen und schließlich Gewalt. Bei einer Reise in die Hafenstadt Varna, in der Mitkos Familie lebt, schlägt Mitko ihn nieder. Der Kontakt zwischen beiden Männern bricht zunächst ab.

Ein Grundmotiv in neuem Gewand

Einige Monate später, im dritten Teil des Romans, klopft Mitko erneut an die Tür des Ich-Erzählers. Vor ihm steht ein krank aussehender, abgemagerter Mitko, der ihn um Hilfe bittet und ihn zugleich warnt. Mitko leidet unter der Syphillis und könnte seinen Freier angesteckt haben. Alarmiert nimmt dieser Kontakt zu seinem neuen Freund auf und begibt sich auf eine Odyssee durch das marode, bulgarische Gesundheitssystem, um zu erfahren, dass auch er sich mit der Syphillis infiziert hat. Eine Erkrankung als Manifestation der Scham und tief empfunden Schande: Nur widerwillig spricht der Ich-Erzähler mit dem Krankenhauspersonal über sein gesundheitliches Problem und erfährt zudem, dass ihn Mitko erneut belogen hat. Das Medikament, für das Mitko seinen Freier um Geld bittet, ist auf Monate in Bulgarien gar nicht lieferbar.

Der namenlose Ich-Erzähler, er ist bei Greenwell in Getriebener und Heimatloser, der zwischen Scham und Begehren wandelt, zwischen Selbstverachtung und dem Wunsch, seine Identität zu akzeptieren. Die Begegnung mit Mitko ist für ihn ein kathartisches Erlebnis, das ihn zurückführt zu der Grundverletzung, die Greenwell im mittleren, zweiten Teil seines Romans schildert. In einer Rückblende erfährt der Leser von der Missachtung des Heranwachsenden. Jener Satz: »Du bist nicht mein Sohn«, den wohl so mancher schwule Mann gehört hat, bekam auch der Ich-Erzähler von seinem Vater um die Ohren gehauen, als dieser von den homosexuellen Neigungen erfährt. Die Erinnerung daran wird wach, als der Ich-Erzähler in Sofia die Nachricht erhält, dass sein Vater im Sterben liegt. Zwischen den seelenlosen Betonbauten Sofias, verrottende Zeugen des zusammengebrochenen Kommunismus, läuft er ziellos umher, für eine kurze Zeit begleitet von einem verletzten Straßenköter. Greenwell entwirft hier ein geradezu apokalyptisches Bild für die existenzielle Not seines namenlosen Anti-Helden.

Garth Greenwell, der zunächst als Opernsänger arbeitete, nimmt sich in seinem Roman einer Thematik an, die ich als universell im Leben eines schwulen Mannes bezeichnen möchte: Die Feststellung, dass die eigene Sexualität anders ist, als die anderer Menschen sowie die Reaktionen darauf. Es ist die Furcht vor Ablehnung und die oftmals sehr reale Ausgrenzung durch nahestehende Menschen. Dass er seinem Ich-Erzähler keinen Namen gibt, unterstreicht diesen universellen Charakter seiner Geschichte, die in ihren Grundzügen für viele schwule Coming-Out-Geschichten stehen könnte. Ein oft erzähltes Grundmotiv, das durch die Sprachkunst von Garth Greenwell einen neuen Anstrich erfährt.

Zwischen Scham und Sex

Schriftsteller Garth Greenwell
Garth Greenwell nach seiner Lesung im Literaturhaus Hamburg am 7. März 2018

Ein introvertierter, schwuler Mann erhebt hier erstmals seine Stimme, um hörbar und sichtbar zu werden. Und das in einer Stimmlage, die kühl, distanziert und zugleich anschaulich ist. Ein großes Lebens- und Liebesdrama wird in ruhigen, fließenden und manchmal auch langen Sätzen geschildert. Es ist kein schrilles Buch, auch wenn die in der Kritik so oft gelobten Sexbeschreibungen dies vermuten lassen. Hier unterscheidet sich Greenwell übrigens auch von den oben erwähnten Fotos von Marc Martin. Der Sex, den Greenwell in Worte fast, ist anschaulich, niemals aber pornographisch oder voyeuristisch. Vielmehr dringt der Autor zum Kern von Sexualität vor: Er macht sie als in menschliches Grundbedürfnis sichtbar, welches durch Moralvorstellungen entstellt und mit Scham behaftet wird. Eine, wie Greenwell es sagt, intensive und komplizierte Form der menschlichen Kommunikation, die gerade bei schwulen Männern immer noch mit Angst belegt ist.

Die Klappen mögen, zumindest hier in Deutschland, weitgehend als Ort des schnellen Sex ausgedient haben. Wer sich aber zum Beispiel auf den Datingplattformen im Internet umschaut, wird immer wieder auch auf die Heimlichkeiten, die verborgenen Wünsche und unausgesprochenen Phantasien stoßen, die sich ihren Weg in die Realität suchen. Und auf jede Menge Männer, die ihre sexuelle Identität, aus welchen Gründen auch immer, verbergen müssen oder wollen. Nur mit dem Unterschied, dass im virtuellen Raum vieles in der Phantasie bleibt, während Klappen greifbar und real waren. Und ein Ort, in dem Sexualität über soziale Grenzen stattfinden konnte.

»What Belongs to You« ist eine kluge Reflexion über die Scham, ihre Folgen, und den Umgang mit ihr. Wie bestimmend sie sein kann, zu welchen Lügen und Abhängigkeit sie Menschen treiben kann und wie man ihr möglicherweise entkommen kann. Scham und Sex – zwei gegensätzliche Impulse, die einerseits ins Zwanghafte schlagen können, die andererseits auch der Antrieb für Kreativität sein können. Die Balance zwischen beiden herzustellen – das ist vielleicht die Kunst, die zum Leben gehört. Eine Anregung dazu, wie dies gelingen kann, ist Greenwells sensibel beobachteter und zutiefst menschlicher Roman auf jeden Fall. 

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich folgende, englischsprachige Ausgabe:
Garth Greenwell: What Belongs to You. – London : Picador, 2017
ISBN 978-1-4472-8052-1

Die deutsche Übersetzung ist im Januar 2018 erstmals veröffentlicht worden:
Garth Greenwell: Was zu Dir gehört. – Übersetzt von Daniel Schreiber. – 
München : Hanser Berlin, 2018
ISBN 978-3-446-25852-5

Weiterführende Links

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

1 Kommentar