»And if you bury me,
The Walkabouts – The Light will stay on (1996)
add three feet to it
one for your sorrow,
two for your sweat
three for the strange things
we never forget.«
Sterbende – das sind immer die anderen. Die Toten aus den täglichen Nachrichten, die durch Kriege, Unglücke oder Naturkatastrophen ums Leben gekommen sind. Das sind die Leute aus der Nachbarschaft, die einen tödlichen Verkehrsunfall hatten. Das sind die Großeltern oder Eltern, die sehr alt geworden sind und nun gehen müssen. Sie erinnern uns daran, dass jeder von uns sterben muss. Irgendwann. Verdrängung ist das, was uns über Wasser hält. Wir können nicht ständig an unseren eigenen Tod denken, wir leben. Doch wir können von den Menschen, die im Sterben liegen, lernen. Der Journalist Alexander Krützfeldt hat einige von ihnen begleitet, ihnen zugehört und ihre Geschichten aufgeschrieben. In seiner Langzeitreportage »Letzte Wünsche. Was Sterbende hoffen, vermissen, bereuen – und was uns das über das Leben verrät« finden sich ihre Stimmen, ihre Erinnerungen und – wie es der Titel sagt – ihre Wünsche.
Einer, der diese Wünsche sehr gut kennt, ist Frank Wenzlow. Wenzlow ist Sanitäter, Ausbilder für Erste Hilfe, Sachverständiger für Rettungsdienste. Einer, der Leben rettet. Er war als Einsatzleiter 1998 bei den Bergungsarbeiten nach der Zugkatastrophe in Eschede dabei. Damals sagte er einem SPIEGEL-Reporter gegenüber: »Wer behauptet, hier nur noch Profi zu sein, der muß Eiswürfel pinkeln können, so kalt muß der sein.« Ein Mann der klaren Worte. 2007 lernt er seine dritte Frau kennen: Lissy, die eigentlich Katrin heißt. Was dann folgte, fasst Krützfeldt in kurzen Worten zusammen:
»20.10.2009: Hochzeit. Frühjahr 2012: Gebärmutterkrebs. Herbst 2012: Darm- und Milzkrebs. Juli 2014: Darmkrebs, gestreut. Gestorben ist Lissy dann am 18.10.2014, einem Samstag, um 14.20 Uhr.«
Alexander Krützfeldt: Letzte Wünsche (p. 42)
Jeder hat seinen eigenen Weg, mit dem Tod eines geliebten Menschen umzugehen. Frank Wenzlow gründete einen Verein, den Ambulance Service Nord, der Sterbenden einen letzten Wunsch erfüllt. Es sind die Sternenfahrten an Orte, die eine Bedeutung im Leben hatten: Das Meer, der Zoo, die eigene Wohnung. Wenzlow weiß, wie das ist. Seine Frau wollte noch einmal ans Meer. Doch die Bürokratie, die Krankenkasse und auch das Deutsche Rote Kreuz haben ihr diesen Wunsch verwehrt. Es kostet halt Geld, es wird ein speziell ausgestattetes Fahrzeug benötig. Zu teuer, zu spät. Lissy ist gestorben, ohne das Meer noch einmal gesehen zu haben.
Ein guter Abschied
Der Verein erfüllt Wünsche: Den von Ines zum Beispiel, die noch einmal mit ihren Freundinnen und ihrem Sohn in der Bremer Schlachte – einem Kneipenviertel an der Weser – einen drauf machen will. Oder den von Renate, der ersten Patientin, mit der Frank Wenzlow eine Sternenfahrt durchgeführt hat. Renate wollte einfach noch einmal nach Hause, raus aus dem Hospiz, zusammen mit ihrer Tochter Sylvia und ihrem Enkelsohn Lars. Und dann wird diese Fahrt zu einer Reise in die Vergangenheit, in die Familiengeschichte, die, wie im Fall von Renate, nicht gerade gut gelaufen ist. Sterbende bereuen, grämen sich um Verletzungen, die sie vielleicht anderen angetan haben und versuchen Frieden zu schließen. Renates Tochter Sylvia glaubt, dass es am Ende ein guter Abschied für sie beide war.

Für seine Reportage hat Alexander Krützfeldt auch mit den Menschen gesprochen, die in Hospizen oder im Hospizdienst arbeiten. Wie Tanja, die die sterbende Melanie zu Hause begleitet. Melanie, die kaum älter als 30 ist, eine junge Lehrerin, an Krebs erkrankt. In einer unaufgeregten Sprache lässt Krützfeldt die Sterbenden und die, die sie begleiten, berichten. Über ihre Wut, ihre Verzweiflung, ihre Trauer. Wie sie versuchen, sich als Kranke in die Welt der Gesunden zurück zu kämpfen. Wie schwierig es für eine Begleiterin wie Tanja sein kann, ihnen keine falsche Hoffnungen zu machen und sie gleichzeitig nicht vor den Kopf zu stoßen. Melanie hat sich entschlossen, offensiv mit ihrem Sterben umzugehen, was einige Menschen in ihrem Umfeld zunächst verunsicherte. Aber sie sagt, dass ihr diese Offenheit sehr geholfen hat. Ihre Freunde besuchen sie, lassen sie teilhaben an ihrem Leben. Krützfeldt stellt die These auf, dass wir alle drei Tode sterben: Den sozialen Tod, weil Menschen sich abwenden, den geistigen Tod, weil wir uns nicht mehr an das erinnern können, was gestern geschah, und den körperlichen Tod, umnebelt von schmerzlindernden Medikamenten. Vielleicht hat Melanie das Glück, den sozialen Tod nicht zu erleben.
Der ausgelagerte Tod
Sterben verdichtet das Leben. Alexander Krützfeldt fängt dies durch seine Reportage, die sich aus kurzen Episoden zusammensetzt, großartig ein. Seine ruhige, direkte Sprache kommt auf den Punkt. Kein Wort ist zu viel – denn angesichts des Todes geht es um das Wesentliche. Dafür hat er ein sicheres Gespür. Er schafft die Gratwanderung, sich als Reporter fast vollständig zurückzunehmen, seine Protagonisten sprechen zu lassen. Das ist eine Form von Journalismus, die zwischen boulevardesken Clickbaits und nüchternem Expertenwissen mittlerweile selten zu finden ist. Fakten, so sie denn nötig sind, streut er passend ein, lässt aber den Sterbenden genügend Raum, ihre Gefühle, ihre Erfahrungen zu schildern. Wirklich überraschend ist, wie undramatisch und authentisch er das Sterben beschreibt. Dabei geht es aber nicht um Verklärung oder Verdrängung – Sterben ist vermutlich das dramatischste Erlebnis im Leben – sondern um die ehrliche Wiedergabe dessen, was dabei mit den Sterbenden geschieht und mit den Menschen, die mit ihnen zu tun haben, die sie lieben, die sie pflegen, die ihnen helfen.
»Letzte Wünsche« ist zwischen den Sachbüchern, die sich mit Tod und Sterben beschäftigen, eine lesenswerte Ausnahme. Es nimmt die Sterbenden ernst, gibt ihnen eine Stimme und verleiht ihnen Respekt. Oft wird beklagt, dass der Tod in unserer Gesellschaft in Altenheime und Hospize »ausgelagert« wird. Krankheit, Leid und Tod haben im Leben keinen Platz. Wer von uns wird noch zu Hause sterben? Alexander Krützfeldt zeigt auf, dass dies nicht zwangsläufig so sein muss. Und er zeigt auf, wie es im Untertitel seines Buchs schon anklingt, dass uns das Sterben viel über unser Leben verrät. Helge, einer der Mitarbeiter im Verein von Frank Wenzlow, sagt es so:
»Der Tod, ein Tabu? Nein. Wir sind ihm gegenüber nur gleichgültig geworden. Und wer dem Tod gleichgültig gegenübersteht, der steht auch dem Leben gleichgültig gegenüber.«
Alexander Krützfeldt: »Letzte Wünsche« (p. 1999)
Disclaimer
Vielen Dank an den Rowohlt-Verlag, der mir ein Leseexemplar des Buches zur Verfügung gestellt hat.
Bibliographische Angaben
Gelesen habe ich die E-Book-Ausgabe des Buches.
Alexander Krützfeldt: Letzte Wünsche. Was Sterbende hoffen, vermissen, bereuen – und was uns das über das Leben verrät.
Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2018
ISBN 978-3-644-40502-8 (E-Book)
ISBN 978-3-499-63402-4 (Printausgabe, 1. Auflage)
Weiterführende Links
- Reportagen aus dem Randgebiet
Meine Kritik zu Alexander Krützfeldts »Acht Häftlinge« - Homepage von Alexander Krützfeldt
- Alexander Krützfeldt bei Twitter
- Homepage des Amublance-Service-Nord e.V.
Hier finden sich weitere Informationen zu den Sternenfahrten - Über Leben und Tod: Was passiert, wenn wir sterben?
Roland Schulz und Alexander Krützfeldt im Gespräch mit Christian Rabhansl (Sendung bei Deutschlandfunk Kultur vom 17. November 2018)
Soundtrack zum Buch
Der oben zitierte Song »The Light will stay on« stammt aus dem Album »Devil’s Road« der US-amerikanischen Rockband »The Walkabouts« aus dem Jahr 1996. Chris Eckman, der den Song geschrieben hat, sagt dazu:
»I never really have believed that we actually come back as another being. That is a bit too wide-eyed and forgiving to fit into my world view. If I have any belief in reincarnation it probably fits more in with Nietzsche’s idea that we return as the same people, to forever re-live the mistakes we made in our last life. So hey, don’t fuck up! Do everything you can to get it right the first time.«
Quelle: Nighthawks – Hearsay #16 / 1997 / Email interview with Neil
Während der Lektüre von »Letzte Wünsche« kam mir dieser Song in den Sinn. Er wird nicht im Buch erwähnt.