Schwule Coming-of-Age-Romane sind mittlerweile keine Seltenheit. Mancher mag sogar die Stirn runzeln, dass es mit »Open, Heaven« des britisch-irischen Autors Seán Hewitt jetzt noch einen Roman zum Thema gibt. Brauchen wir neben den Büchern von Douglas Stuart, André Aciman und Tomasz Jedrowski noch eine Coming-of-Age-Geschichte? Unbedingt, denn Seán Hewitt schlägt einen ganz eigenen Ton an, bei dem am Ende sogar die Glocken läuten.
»Als meine Ehe zerbrach, stellte mein Ehemann fest, dass ich ihn lieben, aber nicht begehren könne (…).« Eine Wahrheit, der sich der 36-jährige James Legh nur anschließen kann. Die Turbulenzen der Trennung zwingen ihn von seiner Arbeit als Bibliothekar eine Auszeit zu nehmen. Seine Erinnerungen holen ihn ein, auch wenn die Zeit rückwärts immer schneller läuft, wie er gleich im ersten Satz des Romans »Open, Heaven« behauptete. Die Gegenwart ist für ihn ein verschlammter Fluss; die Erinnerung und die Vergangenheit hingegen sind ein reißender Strom, die ihn zurückführen an den Ort seiner Kindheit und Jugend: Thornmere, eine Kleinstadt mit etwa 500 Häusern.
Hier lebte James mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Eddie. Als Erwachsener entdeckt er im Internet eine Anzeige für eine Immobilie in Thornmere, die ihm bekannt vorkommt. Er gibt sich als Kaufinteressent aus und fährt zurück in sein ehemaliges Elternhaus. Damit beginnt seine Reise zurück in das Jahr 2002, in dem er seiner großen, und wohl bislang auch einzigen, Liebe begegnet ist.
Eine Jugend im ländlichen Nirgendwo
Als 16-jähriger träumt sich James weg aus der Stadt, die irgendwo im Nirgendwo liegt, an einer Autobahn, auf der scheinbar alle vorbei fahren, aber niemals dort halten. Sein wortkarger Vater verschafft ihm einen Aushilfsjob als Milchfahrer, so dass James jeden Tag früh aufstehen muss. James ist schon früh gefordert, denn neben Job und Schule muss er auch immer wieder auf seinen jüngeren Bruder Eddie aufpassen, der zu epileptischen Anfällen neigt.
Auf einer seiner morgendlichen Touren im Herbst 2002 trifft er erstmals auf den ein Jahr älteren Luke. Während James ein schüchterner Einzelgänger ist, zeigt sich der blonde Luke als kumpelhafter Draufgänger. Ein Junge, der unfreiwillig von seinem Vater getrennt wurde und ein Jahr bei seinem Onkel und seiner Tante in Thornmere leben muss. Näher lernen sich die beiden Jungen während der Bonfire Night (der Guy Fawkes Night am 5. November) kennen.
Nach und nach vertiefen sie ihre Freundschaft, erkunden zusammen die Gegend rund um Thornmere und feiern in einem Jugendclub. James verliebt sich in Luke, ist aber stark verunsichert, ob dieser auch etwas für ihn empfindet. Als James Luke mit einem Mädchen sieht, vermutet er, dass Luke mit ihr eine Beziehung hat. Doch ist er wirklich mit dem Mädchen zusammen oder ist ihre Begegnung einfach nur Zufall? James Zweifel werden stärker. Ohne ihren Eltern und Familien Bescheid zu geben, machen sich die beiden Jungs an einem Sommertag mit einem Zelt zu einem Ausflug auf. Eine Tour, die letzte Klarheit für James bringen könnte.
Im Rhythmus der Jahreszeiten
Seán Hewitt setzt seinen Entwicklungsroman vor einer detailliert beschriebenen Landschaft in Szene. Seinen wunderbaren Naturbeschreibungen ist anzumerken, dass Hewitt bislang vor allem als Lyriker bekannt geworden ist. Der 1990 im englischen Warrington geborene Autor legte nach verschiedenen Gedichtbänden 2022 mit »All Down Darkness Wide« ein Erinnerungsbuch vor, in dem er autobiographisch die gescheiterte Beziehung zu seinem Liebhaber Elias beschreibt. »Open, Heaven« ist sein Debütroman.
Die darin poetisch beschriebene Natur ist nicht nur einfach Setting: Der stringente Rhythmus der Jahreszeiten (einige Kapitel sind entsprechend nach den Jahreszeiten betitelt) bildet einen scharfen Kontrast zu der verwirrenden, ambivalenten Gefühlswelt des Ich-Erzählers James, die Hewitt ebenfalls sehr präzise einfängt. Er, der sich gegenüber seinen Eltern als schwul geoutet hat, was diese eher beiläufig, fast gleichgültig zur Kenntnis nehmen, sucht seinen Platz, seine Orientierung, seinen Rhythmus und ist zugleich überwältigt von der Heftigkeit seiner Liebe zu Luke.
Zwischen Freude und Schrecken
Hinzu kommen kurze Passagen, in denen die Umwelt und die Natur geisterhaft erscheinen, eine gruselige Atmosphäre. Ein dunkler Tunnel, durch den James zur Schule gehen muss, eine verborgene Höhle, in der er sich verfolgt und beobachtet fühlt – neben den Freuden, neben den Leiden der Jugend gibt es auch den Schrecken der Jugend. Den Roman durchzieht eine melancholische Grundstimmung, in der die vergangenen Erlebnisse wie in einem Traum vom Ich-Erzähler noch einmal durchlebt werden. Ein Traum, der James womöglich dabei hilft, seine unerfüllte, erste Liebe zu überwinden. Ob es im gelingt, bleibt offen. Am Ende dieses Traums erklingen die Kirchturmglocken und ihr Läuten steigt in den offenen Himmel hinauf.
Bibliographische Angaben:
Gelesen habe ich folgende, englischsprachige Ausgabe:
Seán Hewitt: Open, Heaven. – London : Jonathan Cape, 2025. – 220 Seiten. –
ISBN 978-1-787-33519-6. – £ 16.99
Für Juli 2025 ist die deutsche Übersetzung bei Suhrkamp angekündigt: (ohne Autopsie)
Seán Hewitt: Öffnet sich der Himmel. – Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. – Berlin : Suhrkamp, 2025. – 283 Seiten.- ISBN 978-3-518-43257-0. – 25,- €

Schönes Lesen noch!