Eine Mahnung – »This Is How It Begins« von Joan Dempsey

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»Even when the rain falls
Even when the flood starts rising
Cause even when the storm comes
I am washed by the water«

Needtobreathe – Washed by the water (2007)

Geschichte wiederholt sich nicht. Auch wenn in manchen Situationen Parallelen zu vorangegangenen Ereignissen erkennbar sind, so bleibt doch jeder Moment, seine Umstände, seine Orte und seine handelnden Personen verschieden. So ist der Holocaust ein einmaliges, ein furchtbares, ein unfassbares Verbrechen – was nicht bedeutet, dass wir und künftige Generationen verschont bleiben werden von einem industriell durchgeführten Massenmord. Entscheidend ist es, die Parallelen, Muster und Absichten frühzeitig zu erkennen, um uns und andere vor solchen Verbrechen zu schützen. Das Warschauer Getto, das Joan Dempsey in ihrem Debütroman »This Is How It Begins« beschreibt, bleibt ein einzigartiger, einmaliger Ort, so wie die Menschen, die dort ermordet wurden oder von dort in die Konzentrationslager gebracht wurden.

Sie beginnt ihren Roman dort, mit einem fiktionalen Bild des polnischen Malers Alexander Roslan. »Prelude, 1939« heißt das Gemälde, das eine Straßenszene in Warschau zeigt, darin ein junger Straßenmusikant. Die Kunstprofessorin Ludka Zeilonka, Hauptfigur in Dempseys Roman, betrachtet mit ihren Studenten das Gemälde und fordert sie auf, zu beschreiben, was sie im Bild sehen und was nicht. Zwei ihrer Studenten streiten: Warum ist in dem Bild keine Kirche, dafür aber eine Synagoge zu sehen? Und sind die zwei Männer auf dem Bild Homosexuelle oder befreundete Gelehrte? Will, einer der streitenden Studenten, verweist auf den Antisemitismus der katholischen Kirche und den Verrat jüdischer Nachbarn durch Christen während der NS-Zeit. Sophie, die andere Studentin, stellt hingegen die These auf, dass der jüdische Maler Roslan eine Stadt ohne Christen darstellen wollte. Schließlich seien es die Juden gewesen, die Jesus ermordet hätten. Und nicht alle christlichen Einwohner Warschaus hätten mit den Nazis konspiriert.

Ohne es zu ahnen, trifft sie mit diesem letzten Punkt eine schmerzliche Erinnerung in der Biographie ihrer Professorin: Die Katholikin Ludka Zeilonka hatte damals ihren heutigen Mann Issac Rosenberg aus dem Getto gerettet. Sie flüchteten in die USA, wo Ludka als Kunstprofessorin Karriere machte, während ihr Ehemann Issac es zum Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Massachusetts schaffte. Ihr Sohn Lolek ist Senator seines Bundesstaates und ihr Enkelsohn Tommy Lehrer an einer Schule. Eine auf den ersten Blick erfolgreiche Familie, die jedoch Risse zeigt, als ihr Enkel fristlos von seiner Schule entlassen wird. Der Vorwurf: Angeblich habe Tommy die religiöse Freiheit seiner Schüler verletzt. Zeitgleich mit ihm sind zehn weitere Lehrer in Massachusetts aus dem gleichen Grund entlassen worden. Der eigentliche Hintergrund: Alle entlassenen Lehrer sind schwul oder lesbisch.

Ein verstecktes Bild verschwindet

Eine christliche Vereinigung, angeführt vom Radiomoderator Warren Meck und Pastor Royce, hat es sich zur Aufgabe gemacht, homosexuelle Lehrer aus dem Schuldienst zu verbannen. Die Entlassung von Tommy und den anderen Lehrern ist Ausgangspunkt einer umfassenden Kampagne, bei der Meck und Royce auch eine Gesetzesänderung zum Schutz von christlichen Werten in der schulischen Erziehung durchsetzen wollen. Die Familie Zeilonka, unterstützt durch einen Anwalt, leistet Widerstand. Ein Widerstand, der sie zu Gejagten werden lässt: Tommy wird von Unbekannten verprügelt, seine Großeltern erhalten Drohbriefe und schließlich wird ein Brandsatz in das Haus von Ludka und Issac geworfen.

Erinnerungen an die ersten Übergriffe gegen Juden werden bei Ludka wach. Es gibt allerdings noch einen anderen Grund für ihren Blick in die Vergangenheit. Ein junger Mann namens Stanley Brozek meldet sich bei ihr. Er behauptet, der Enkel von Oskar zu sein, Ludkas ersten großen Liebe. Seit ihrer Flucht in die USA hat sie Oskar nie wieder gesehen. Brozek behauptet, auch er wisse nicht, wo sein Großvater sei. Als Kunsthändler interessiert er sich sehr für die Sammlung polnischer Kunst, die Ludka besitzt. Darunter auch das Portrait des Komponisten Frédéric Chopin, das Ambroży Mieroszewski 1829 gemalt hat und als das erste Portrait des Musikers gilt. Offiziell wird das Gemälde vermisst, in Dempseys Geschichte hat Ludka das Bild aus Warschau gerettet und hält es seit dem versteckt. Niemand weiß davon, doch kaum hat sie Stanley Brozek zu Besuch, ist das Bild verschwunden.

Joan Dempsey: This is how it begins
Lektürenotizen zu „This is how it begins“ von Joan Dempsey

In ihrem konventionell erzählten Roman verwebt Joan Dempsey mehrere Stränge: Die Abwehr von LGBTQ-Gruppen gegen die zunehmenden Angriffe christlicher Fanatiker auf die Rechte von Schwulen und Lesben in den USA, die Nachwirkungen der barbarischen Gewalt der Nationalsozialisten in Polen und nicht zuletzt die Geschichte der Familie Zeilonka. Ihre Romanfiguren sind überwiegen differenziert gezeichnet. Ludka hat als Katholikin Schwierigkeiten mit der Homosexualität ihres Enkels, Radiomoderator Warren Meck zeichnet Dempsey missionarisch und christlich-naiv, er lehnt jedoch die Hassbotschaften der Mitglieder der Westboro Baptist Church ab, die als Protestierende im Roman auftauchen. Die Autorin vermischt geschickt reale Begebenheit und Persönlichkeiten mit ihrer fiktionalen Erzählung.

Historische Schablone

Das liest sich, nicht zuletzt durch kriminalistische Elemente wie dem verschwundenen Gemälde oder der Gewalt gegen Tommy, spannend und mitreißend. Schwieriger wird die Lektüre für deutsche Leserinnen und Leser, wenn es um die US-amerikanische Justiz und der Gesetzgebung geht. Hier schweift Dempsey gelegentlich ab. Das ist zwar lehrreich, hemmt aber auch den Fluss ihrer Geschichte. Gekonnt dagegen legt sie die traumatischen Kriegs- und Fluchterlebnisse ihrer Ludka als historische Schablone auf die Ereignisse um den schwulen Enkel Tommy. Nein, Geschichte wiederholt sich auch hier nicht. Dempsey ist meilenweit von einer Relativierung des Holocausts gegenüber der Verfolgung von Schwulen und Leseben in den USA entfernt. Hier wird nichts gegeneinander auf- oder abgewogen, es wird nicht verglichen. Aufgezeigt werden jedoch die Mechanismen bei der Entstehung von Hass. Ein Hass, der mit der Ausgrenzung Andersgläubiger beginnt und katastrophale Folgen gehabt hat – oder haben könnte. Ludka sagt es am Ende so:

»The Holocaust began in hearts of people. As soon as you go and say ‚that Jew‘, it has begun. That is where it starts. That is the beginning.«

Joan Dempsey: This Is How It Begins, S. 385

Und genau so kann dieser lesenswerte Roman verstanden werden: Als Mahnung und als Weckruf.

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Joan Dempsey: This Is How It Begins. – Berkeley, CA : She Writes Press, 2017
ISBN 978-1-63152-308-3
Eine deutsche Übersetzung ist mir zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags nicht bekannt.

Weiterführende Links

Soundtrack zum Buch

Der oben zitierte Text stammt aus dem Song »Washed by the water« der christlichen Rockband Needtobreathe. Er wird im Roman erwähnt, als ein Jugendlicher den Radiomoderator Warren Meck diese Zeilen aus dem Lied vorsingt und Meck ihn errät.

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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