Am Ende habe ich geweint – Über Philippe Bessons »Hör auf zu lügen«

A

»Ah, lèvres séchées, gorge nouée
Tes mains ne serrent que fumée
Ah, que d’insolence dans le silence
Qui trouble ton innocence
Un jeu mêlé de souffrance
Comme un guerrier que l’on blesse
Se cache dans son rêve
Se masque de tout son courage
Sans cesse continue le combat
Comme la toute première fois«

Jeanne Mas – Toute première fois (1984)

So eine Überschrift geht natürlich nicht. »Am Ende habe ich geweint« – das ist doch gefühlsduseliges Bloggen. Kafka für Arme, von wegen Axt und im Kino gewesen. Wer soll das ernst nehmen? Buchbesprechungen haben die Gefühle des Rezensenten bitte zurückzustellen. Nimm doch lieber die zunehmende Menge von autobiographischer Literatur als Einstieg. Schreibe darüber, dass es immer mehr Autorinnen und Autoren gibt, die ihre Lebensbekenntnisse in mehr oder weniger literarischer Form abliefern. Édouard Louis zum Beispiel, dem 2015 mit seiner biographischen Fiktion »Das Ende von Eddy« (frz.: »En finir avec Eddy Bellegueule«) ein Überraschungserfolg gelang – immerhin mit einer schwulen Geschichte. 

Édouard Louis ist ein junger Autor, er wurde 1992 geboren. Philippe Besson, Jahrgang 1967, ist hingegen ein erfahrener und produktiver Schriftsteller. 2001 erschien sein Debüt »Zeit der Abwesenheit« (frz.: »En l’absence des hommes«), seine fiktive Erinnerung an Marcel Proust. Es folgten 16 Romane, von denen etwa die Hälfte auch ins Deutsche übersetzt wurden. Nun ist mit »Hör auf zu lügen« nach längerer Pause wieder ein Roman von Besson auf Deutsch lesbar, diesmal in der Übersetzung von Hans Pleschinski. Édouard Louis kommt mir selbstverständlich nicht ohne Grund in den Sinn: Gewisse Parallelen zwischen »Das Ende von Eddy« und »Hör auf zu lügen« sind offensichtlich. Das Aufwachsen eines schwulen Mannes in der französischen Provinz, die Homophobie und schließlich der Ausbruch aus dem Gefängnis der Kindheit, die Flucht vor engstirnigen Menschen in die Großstadt. 

Da sind dann aber auch schnell die Unterschiede: Louis‘ Roman spielt um die Jahrtausendwende und ist voller aggressiver Szenen, verbaler und körperlicher Homophobie. Bei Besson, dessen Roman zum großen Teil im Jahre 1984 spielt, ist dies alles leiser, versteckter. So wie es eben damals war auf dem Land. Der 17-jährige Philippe wächst als Sohn des Schuldirektors in Barbezieux in der Charente auf. Eine Kleinstadt inmitten eines Weinanbaugebietes, in der ein begabter und sensibler Junge wie Philippe kaum eine Zukunft hat. Er hat eine Gabe, die sein Leben als Schriftsteller schon in diffusen Zügen aufzeigt: Er erfindet Geschichten. Besessen dichtet er Menschen, die er zufällig trifft, ganze Lebensläufe an. Diese Gabe beunruhigt seine Mutter: »Hör mit deinen Lügen auf« sagt sie zu ihm. Dabei sind die Lügen für ihn Geschichten und später sein Beruf. 

Im Verborgenen

In der Zeit kurz vor dem Abitur trifft er auf den Mitschüler Thomas Andrieu. Philippe weiß seit seinem elften Lebensjahr, dass er Jungen mehr mag und hat in dem Alter auch schon den ersten, pubertären Sex mit Sébastian. Mit 17 dann tritt Thomas in sein Leben, der zurückhaltende, hochgewachsene und feingliedrige Junge. Der erste, schüchterne Kontakt, bei dem Philippe damit rechnet, dass ihm Thomas, den er für die Jungen verloren glaubt, einen Faustschlag versetzt. Doch es kommt anders: Sie verabreden sich in einem Café. Philippe folgt Thomas, um mit ihm Sex in der leerstehenden Turnhalle zu haben. Es folgen unregelmäßige Treffen, sogar bei Philippe zu Hause. Alles unter der Bedingung, die Thomas gleich zu Beginn aufgestellt hat: »Es« muss verborgen bleiben. 

Philippe Besson: Hör auf zu lügen
Lektürenotizen zu Philipp Bessons »Hör auf zu lügen«

Was folgt, sind die ersten Monate einer heimlichen, unsicheren Liebesgeschichte. Die Furcht vor Entdeckung, die Zweifel an den eigenen Gefühlen und denen des Liebhabers. Dazu die Vorbereitung auf das Leben nach der Schule. So plötzlich die Liebesgeschichte zwischen Philippe und Thomas begann, so abrupt endet sie: Thomas, der spanische Vorfahren hat und aus einer Winzerfamilie stammt, verbringt den Sommer 1984 in einem spanischen Dorf und wird dort auch bleiben. Philippe zieht am Ende der Ferien nach Bordeaux, um dort in eine Vorbereitungsklasse für eine Pariser Hochschule zu gehen. »Ich lösche Thomas Andrieu aus« schreibt er am Ende dieses Kapitels. 

Ein fremdbestimmtes Leben  

23 Jahre später dann eine überraschende Begegnung in einem Hotel in Bordeaux. Philippe glaubt Thomas wieder zu erkennen, doch es ist Lucas, der Sohn von Thomas. Er berichtet Philippe vom Leben seines Vaters. Wie er mit seiner Frau aus Spanien zurückgekehrt ist, den elterlichen Hof bewirtschaftet und dass sein Vater immer traurig wirkt. Ein Wiedersehen mit Thomas bleibt jedoch ausgeschlossen. Neun Jahre später, 2016, bittet Lucas erneut um ein Treffen mit Philippe. Unbedingt, wie er betont. Denn Thomas hat sich das Leben genommen. In seinem Nachlass findet sich ein Brief an Philippe, den Thomas nie abgeschickt hat. Er schrieb ihn im August 1984, kurz bevor er nach Spanien aufgebrochen ist. Er endet mit einem langen Satz.

»Ich wollte Dir nur schreiben, dass ich glücklich war in den sechs Monaten, die wir zusammen waren, dass ich niemals so glücklich gewesen bin und ich schon weiß, dass ich niemals wieder so glücklich sein werde.«

Philippe Besson: »Hör auf zu lügen«, S. 156

Spätestens dieser Abschiedsbrief ließ mich nicht mehr kalt. Denn Philippe Besson erzählt eine Geschichte, die Geschichte seiner ersten Liebe, die nicht sein darf, weil beide – Philippe und Thomas – sich den für sie vorgesehenen Lebensentwürfen gebeugt haben. Thomas, als Sohn eines Winzers, hatte eben den elterlichen Hof zu übernehmen. Philippe, der Geschichtenerfinder, musste eben hinaus nach Paris, um seinem Talent, seiner Begabung zu folgen. Bessons autobiographischer Roman ist eine leise Trauerrede auf zwei Leben, die auf Lügen aufgebaut wurden. Anders als die »Lügen«, die sich Philippe als Schriftsteller ausdenkt und damit erfolgreich ist, bleibt der Trugschluss, dem sich Thomas hingegeben hat, existenziell und letztlich tödlich. Bessons ruhige und hellsichtigen Prosa, die Hans Pleschinski treffend ins Deutsche gebracht hat, entfaltet eine Wucht, die den beiden Biographien der Männer nicht nur gerecht wird – sie steigert sie ins Schmerzhafte, in eine tiefe Traurigkeit. 

Eine trügerische Identität

An dieser Stelle sei noch einmal der Vergleich zu Louis‘ »Das Ende von Eddy« erlaubt. Denn in dieser Entwicklungsgeschichte bricht sich die Wut ihre Bahn, angesichts der Gewalt, die dem jungen Eddy widerfährt. »Hör auf zu lügen« dagegen ist eine traurige Geschichte über das verschwiegene Leiden, trostlos, weil ihre beiden Protagonisten sich ihrem Schicksal ergeben. Es ist eine jener Geschichten, die ich selbst beobachten konnte. Mir sind Männer begegnet, die einem ähnlichen Muster folgen, wie es Thomas getan hat. Angeblich glückliche Familienväter, eingesperrt in die Vorgaben und Verpflichtungen, die sie als mutmasslich heterosexueller Mann zu erfüllen haben und die doch eine ganz anderes Sehnsucht spüren. Auch wenn wir im Jahre 2018 leben – es gibt da draußen immer noch Männer, die nicht die Kraft und den Mut aufbringen, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihren existenziellen Bedürfnissen entsprechen würde. Mich lässt das ratlos und tief traurig zurück. 

»Ich werde entdecken, dass Thomas Andrieu zur trügerischen Identität wird.«

Philippe Besson: »Hör auf zu lügen«, S. 22

Dieser Satz, Leitmotiv des Romans, findet sich am Anfang. Er durchzieht Bessons Geschichte, die nach und nach versucht, jene trügerische Identität zu erhellen, das Rätsel zu benennen, dass Thomas Andrieu umgibt. Am Ende bleibt eine banale Erklärung: Beide, Thomas und Philippe, sind einer fremden Bestimmung gefolgt. Die eigene Identität zu entdecken, zu gestalten und auszuleben ist, angesichts von sozialen Gegebenheiten, von Tradition und Unwissenheit, tatsächlich eine Lebensaufgabe. Leider scheitern manche Menschen daran. Deshalb habe ich am Ende der Lektüre von »Hör auf zu lügen« geweint. 

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Philippe Besson: Hör auf zu Lügen. – Aus dem Französischen von Hans Pleschinski. – München: C. Bertelsmann, 2018
ISBN 978-3-570-10341-8

Die französische Originalausgabe:
Philippe Besson: Arrête avec tes mensonges. – Paris : Éditions Julliard, 2017
ISBN 978-2-2600-2988-5

Weiterführende Links

Soundtrack zum Buch

Der oben zitierte Song »Toute première fois« (dt. »Zum allerersten Mal«) von Jeanne Mas erreichte 1984 in Frankreich die Position 8 in den Charts.  Im Buch wird er erwähnt, als sich Thomas und Philippe zufällig auf einer Party treffen. 

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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