Der schöne Junge aus der Einkaufsstraße – Über Paul Russells »The Salt Point«

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»Once I had my heroes
And once I had my dreams
But all of that is changed now
They’ve turned things inside out
The truth is not that comfortable, no!«

Mission of Burma – That’s When I Reach for My Revolver (1981)

Die Beständigkeit einer Freundschaft zeigt sich oft in der Not, so eine Floskel aus der Abteilung »Lebenshilfe in zwei Minuten bei Facebook«. Was aber, wenn die eigentliche Not schon vor der Freundschaft erlitten wurde? Wenn Lebenskrisen ihre ersten Spuren bereits hinterlassen haben? Die drei Hauptcharaktere in Paul Russells Debütroman »The Salt Point« (dt. »Brackwasser«) sind alle Ende 20 und haben bereits ihre ersten seelischen Erschütterungen hinter sich. Da ist Anatole, der schwule Friseur, dessen Familie ihn aufgrund seiner Homosexualität verstoßen hat. Da ist die Verkäuferin Lydia, deren Vater Selbstmord begangen hat und da ist Chris, der schweigsame Besitzer eines Plattenladens, der einst mit dem Geschwisterpaar Michelle und John zusammenlebte und der erfahren musste, dass John mit einem Auto vor einen Baum gefahren ist. 

Anatole, Lydia und Chris – sie strafen mit ihren Lebensgeschichten der Legende von der »unbeschwerten Jugend« Lügen. Ihr Verletzungen, über die sie kaum miteinander sprechen, bilden den Grundton ihrer wechselseitigen Freundschaft. Einer Freundschaft, die geprägt ist durch Sauf- und Drogenexzesse in den örtlichen Bars. Der Ort, das ist Poughkeepsie, eine Kleinstadt, etwa 80 Meilen von New York City entfernt. Es ist der Herbst des Jahres 1985 und das eher triste Leben im Speckgürtel des großen Molochs New York, es wird zudem überschattet durch die Angst vor dem Atomkrieg und begleitet von den Nachrichten über die Entführung der »Achille Lauro« und dem Mord an dem Passagier Leon Klinghoffer durch palästinensische Terroristen. Es ist Begleitmusik, historischer Rahmen, in dem die drei Freunde in einem ruhigen Kammerspiel ihr gegenseitiges Begehren und ihre Ablehnung austarieren. Anatole, der Romantiker, war kurzzeitig in Chris verliebt, der diese Gefühle jedoch nicht erwiderte. Chris, der sich selbst als einen »gefährlichen« Menschen betrachtet, hatte Sex mit der pragmatischen Lydia, wenn auch eher als lieblosen Beischlaf. Die Wechselspiele ihrer Freundschaft, sie bekommen einen neuen Impuls, als der »schöne Junge aus der Einkaufsstraße« auftaucht.

Dieser jugendliche Gott, er heißt Leigh und ist ein Streuner. Eines Tages sitzt er in der Einkaufsstraße von Poughkeepsie und wird von Anatole und Lydia aus ihren jeweiligen Geschäften heraus beobachtet. Am Abend lernen sie ihn, gemeinsam mit Chris, in einer Bar kennen. Die üblichen Sauf- und Drogenausschweifungen nehmen ihren Lauf und Leigh zieht kurzerhand zu Anatole, der über alle Ohren in den Jungen verliebt ist. Doch auch dies endet für den Schwärmer nicht im Happy End: Zwar schlafen die beiden in einem Bett, Sex findet, bis auf einen halbherzigen Versuch, nicht statt. Leigh interessiert sich zunächst mehr für Lydia, mit der er eines Tages einen waghalsigen Ausflug auf eine Hochbrücke über den Hudson unternimmt und mit der er schließlich im Bett landet. Doch von Liebe, so wie sie ein Anatole verstehen würde, ist hier nicht die Rede. Und es zeigen sich die ersten Brüche in der Freundschaft von Anatole, Lydia und Chris, die das Auftauchen von Leigh nach sich ziehen. Chris fühlt sich von den anderen Beiden ausgegrenzt. Ablehnung, Misstrauen und Eifersucht, sie bestimmen die Zusammenkünfte der vier jungen Leute. Besonders deutlich wird dies, als Anatole zusammen mit Leigh und Lydia einen Tagesausflug nach New York unternimmt, und von der sexuellen Beziehung seiner beiden Freunde erfährt.

Der Wettlauf um den »schönen Jungen aus der Einkaufsstraße« endet, als sich Leigh schließlich entscheidet: Er will den schweigsamen Chris. Doch dieser, der hin und wieder nach New York fährt, um dort Strichern beim Sex zuzuschauen, lehnt Leigh ab. Das Ende, es bleibt offen – für Anatole, Lydia, Chris und Leigh.  

Fallstricke einer Freundschaft

Paul Russell: The Salt Point
Buchcover „The Salt Point“


Paul Russells Roman »The Salt Point« ist bereits 1990 im amerikanischen Original erschienen, erst im vergangen Jahr veröffentlichte der Hamburger Männerschwarm-Verlag die deutsche Übersetzung. Es zeigt sich: Russells Roman ist zeitlos. Jenes »Brackwasser«, wie der Roman auf Deutsch heißt, es ist ein Bild für die sich vermischenden und fließenden Beziehungen der vier Figuren. Brackwasser, oder eben der Salt Point, ist die Stelle, an der sich Süßwasser mit Salzwasser mischt, oft zu finden an Flussmündungen, dort, wo das Süßwasser des Flusses auf das Salzwasser des Meeres trifft. Einen solchen Ort gibt es auch am Hudson, der durch Poughkeepsie fließt. Es ist ein Zone, die es erfordert, dass sich Fische und Pflanzen dem wechselnden osmotischen Druck anpassen, wenn sie dort überleben wollen. Eine Notwendigkeit, der auch im übertragenen Sinne die Hauptcharaktere unterliegen. Ihre wechselhaften, flüchtigen Beziehungen untereinander, sie sind weit entfernt von einem Gleichklang, einer Harmonie. Statt Stabilität zu erfahren, flüchten sich die Vier in Alkohol und in eine morbide Endzeitstimmung. Ihre Freundschaft erscheint eher als eine Notgemeinschaft in einer amerikanischen Kleinstadt. Das, was sie zusammenhält, ist ihr Status als Außenseiter und als Alleinstehende, die sonst womöglich völlig vereinsamen würden. Eine stille Einsamkeit, geschürt durch die frühen Verletzungen, die alle Vier erlitten haben.

Ein Kommentator auf Goodreads behauptete, dass die vier Hauptcharaktere »Drama Queens« sein. Ein Urteil, das ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Denn Paul Russell entwirft mit kühlem, distanzierten Stil eine psychologische Studie über die wechselseitigen Abhängigkeiten und Ablehnungen zwischen vier Menschen, die ihre schwerwiegenden Erschütterungen lieber verschweigen. Er zeigt in stillen und nachwirkenden Bildern, welche Folgen dieses Unausgesprochene, Ungesagte hat und in welchen Widersprüchen dies zu den Erwartungen von Menschen, die sich Freunde nennen, stehen kann. 
»The Salt Point« ist ein leiser und weiser Roman über die Fallstricke einer Freundschaft, deren Wahrhaftigkeit Zweifel aufwirft. 

Paul Russell hat die Geschichte um Anatole, Lydia, Chris und Leigh übrigens weitergeführt. 2015 erschien unter dem Titel »Immaculate Blue« eine Fortsetzung, die deutsche Übersetzung ist in diesen Tagen unter dem Titel »Über den Wolken« erschienen. Dies bedeutet natürlich, dass es hier demnächst mehr über die Vier zu lesen gibt. 

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich die englischsprachige Ausgabe:
Paul Russell: The Salt Point. – New York : St. Martin’s Griffin, 1990
ISBN 0-312-26769-X

Die Angaben für die deutsche Übersetzung lauten: 
Paul Russell: Brackwasser. – Aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Bartholomae. – Hamburg : Männerschwarm, 2017
ISBN 978-3-86300-234-3

Weiterführende Links

Soundtrack zum Buch

Im Roman werden verschiedene Bands der 1980er erwähnt. Während Anatole zum Beispiel die schwule Ikone Madonna hört, steht Leigh eher auf härtere Klänge, wie etwa von der Post-Punk-Band Mission of Burma, deren Song »That’s When I Reach for My Revolver« aus dem Jahr 1981 oben zitiert wird.

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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