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Irisches Seemannsgarn – Über den Roman »Der Junge aus dem Meer« von Garrett Carr

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In seinem Debütroman »Der Junge aus dem Meer« erzählt Garrett Carr vom harten Leben einer irischen Fischerfamilie und ihren zwei ungleichen Brüdern Declan und Brendan. Vor der rauen Kulisse der Küstenlandschaft entsteht ein anschauliches und stilles Drama zwischen Realität und Mythos.

Rockall ist eine winzige, unbewohnte Felseninsel im Nordatlantik, 425 Kilometer von Irland und 370 Kilometer von Großbritannien entfernt. Für den Fischer Ambrose ist es ein Sehnsuchtsort. Nicht, weil man dort gut fischen kann, sondern weil es ein Ort ist, an dem alle Mühen und Sorgen abfallen. Gewesen ist er dort allerdings noch nicht. Er erzählt seinem Sohn Declan von diesem legendären Felsen – seinem leiblichen Sohn. Denn Ambrose und seine Frau Christine haben neben Declan noch einen adoptieren Sohn: Brendan, der Junge aus dem Meer. 

Mit der Ankunft von Brendan beginnt die Geschichte der Fischerfamilie Bonnar, die der irische Autor Garrett Carr in seinem Debütroman »Der Junge aus dem Meer« erzählt. Mossy Shovlin, der seine Tage üblicherweise am Hafenparkplatz verbringt, findet an einem Freitagmorgen im Jahre 1973 ein Baby in einem halb aufgeschnittenen Plastikfass am Steinstrand. Er läuft mit dem Kind in die Stadt und behauptet, die Flut habe es gebracht. Das Findelkind wird zunächst der Gemeindeschwester übergeben, die es über Nacht anderen Familien ausleiht. Bis der Junge bei den Bonnars landet. Seine Frau Christine könne gut mit Babys, behauptet Ambrose, und er selbst erst recht. Sie adoptieren den Jungen und geben ihm den Namen Brendan. Ihr leiblicher Sohn Declan fragt bei der Ankunft des „Jungen aus dem Meer“ nur: Warum?

Eine Familie in wirtschaftlicher Not

Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen zeigt sich die Abneigung, die Declan seinem Bruder entgegenbringt. Im Laufe der Jahre wird sie wachsen, aus ihnen werden Konkurrenten um die Aufmerksamkeit und die Zuneigung des (Adoptiv-)Vaters. Das belastete Verhältnis und die Brüche in der Familie treten deutlicher zu Tage. Die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse spielen dabei eine Rolle. Lohnte sich Anfang der 1970er Jahre der Fischfang noch, so wird es wenige Jahre nach dem Beitritt Irlands zur EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) für die Fischer immer schwieriger. Fangquoten auf der einen Seite, technisch immer ausgereiftere Boote auf der anderen Seite erschweren Ambrose das Leben. Es fehlt an Geld – auch, weil seine Frau Christine ihre Schwester Phyllis und ihren Vater finanziell unterstützt. Konnte sich Christine zunächst durch diese Unterstützung aus der Verantwortung für die Pflege ihres Vaters freikaufen, so müssen die Bonnars bald schon kürzer treten. 

Und die beiden Jungs? Declan findet Trost bei seinem Großvater, dem er gerne behilflich ist. Brendan hingegen wird zum Einzelgänger, unternimmt lange Spaziergänge. Er ist der „Junge aus dem Meer“, mystifiziert zu einem Heilsbringer, der abergläubischen Menschen die Hand auflegt und sie segnet. Mit dem Einsetzen der Pubertät versiegt dieser Glaube an Brendan allerdings schnell. Während Declan beruflich in die Fußstapfen seines Vaters tritt und als Fischer anheuert, lebt Brendan zurückgezogen, fast unsichtbar und freundet sich mit den Außenseitern der Gemeinde an. Zudem nagt der wirtschaftliche Untergang immer mehr an der Familie, so dass Ambrose sich entschließt, seine Fischerei aufzugeben und als Handwerker nach England zu gehen. Ein Entschluss, der die Familie noch mehr auseinander reißt und in einer Tragödie endet. 

Kollektiver Glaube an ein Wunder 

Garrett Carr porträtiert in seinem Roman eine Fischerfamilie, die durch Eigensinn, Halsstarrigkeit, Hartnäckigkeit und nicht zuletzt durch Optimismus ihrer jeweiligen Familienmitglieder geprägt ist. Ambrose bleibt, trotz aller Rückschläge, zuversichtlich und wird darin auch von seiner Frau Christine unterstützt. Die beiden sehr ungleichen Brüder tuen es ihnen nach, jeder auf seine Art. Großen Einfluss auf dieses Leben hat der harte, manchmal auch lebensgefährlichen Berufsalltag der Fischer und die karge Landschaft der Donegal Bay, die im Norden Irlands liegt, allerdings nicht zu Nordirland gehört. »Der Wind vom Atlantik hatte uns so lange die Worte von den Lippen gerissen, bis wir lernten, ohne sie auszukommen.» heißt es gleich zu Beginn des Romans und damit setzt Carr den Ton, in dem er seine Geschichte erzählt: Karg, leise, eindringlich und auf den Punkt. 

Interessant ist dabei die Erzählperspektive des Roman, denn es gibt nicht einen allwissenden Erzähler, sondern die Geschichte wird von einem „Wir“ erzählt – mutmasslich die Stadtbewohner, mit denen die Bonnars zusammenleben. Die Geschichte vom „Jungen aus dem Meer“ wird zur einer irischen Stadtgeschichte, zu einer kollektiven Erinnerung an ein Wunder, an das man nur glauben muss. Ein Mythos, der allerdings von der rauen Wirklichkeit der Landschaft, des Meeres und der Menschen immer wieder entzaubert wird. So tauchen nach einigen Jahren Zweifel an der Herkunft von Brendan auf und es kursiert das Gerücht, Ambrose sei selbst der Vater des ausgesetzten Jungen. Doch kann das stimmen? Dramaturgisch geschickt entworfen verwischt Carr immer wieder Realität mit Illusion und Legende, wodurch sich ein feiner Spannungsbogen entwickelt und damit ein stetiger Lesesog. Es ist eine ruhig erzählte und fesselnde Familiengeschichte, deren Charaktere plastisch und realitätsnah im Gedächtnis bleiben. Ein Roman, der anschaulich das Leben der irischen Fischer schildert und dabei immer wieder wunderbarerweise etwas Seemannsgarn spinnt. 

Gegen Ende des Romans hat Declan auf dem modernen Fischerboot von Tommy, einem früheren Kollegen von Ambrose, angeheuert. Die »Warrior III«  ist so ausgestattet, dass sie auch in den Fischgründen rund um Rockall fischen kann. Bei einer Ausfahrt nähert sich das Boot dem Felsen, doch Sturm und Wellen verschleiern die Sicht. Ist es wirklich die kleine Insel, die Declan in der aufgebrachten See sieht? Seine Mitstreiter zweifeln, doch näher an den Felsen will der Kapitän nicht fahren. »Für Sightseeing verbraucht Tommy keinen Treibstoff«, heißt es lapidar. So bleibt auch für den Sohn Rockall ein Sehnsuchtsort – Seemannsgarn eben. 

Bibliographische Angaben: 

Gelesen habe ich die deutsche Übersetzung in der folgenden Ausgabe: 
Garrett Carr: Der Junge aus dem Meer. – Aus dem Englischen von Kathrin Razum. – Hamburg : Rowohlt Hundert Augen, 2025. – 416 S. – 25,- Euro
ISBN 978-3-498-00716-4

Die bibliographischen Angaben zur Originalausgabe (keine Autopsie):
Garrett Carr: The Boy from the Sea. – London : Picador, Pan Macmillan, 2025. – S. 336
ISBN 9781035044535

Garrett Carr: Der Junge aus dem Meer (Rowohlt Hundert Augen)

Schönes Lesen noch!

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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