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Eine lange Geschichte, in der etwas nicht stimmt – Anmerkungen zu »Stranger than Fiction« von Edwin Frank 

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33 Romane für und über das zwanzigste Jahrhundert stellt Edwin Frank, Autor und Herausgeber der Buchreihe »New York Review Books«, in seiner Literaturgeschichte »Stranger than Fiction« vor. Eine lesenswerte Alternative zu deutschsprachigen »Literaturverführern«, die auf bemerkenswerte Weise analysiert, wie Fiktion und Realität miteinander verbunden sind

Am Anfang war Musik. Genauer gesagt beginnt die Geschichte des Buches »Stranger than Fiction« mit dem Album »KID A« der britischen Rockband Radiohead. Beim Geschirrspülen hörte Autor Edwin Frank die Musik und erinnerte sich an das gerade veröffentliche Buch »The Rest Is Noise« des Musikkritikers und Radiohead-Fans Alex Ross. Darin zeichnet Ross die Geschichte der europäischen und amerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts im Lichte der politischen, sozialen und technologischen Umwälzungen nach. Ross verknüpft die Kunstform der Musik mit den Verwerfungen ihrer Zeit, in der sie entstanden ist. Eine gelungene Musikgeschichte, die mit reichlich Kritikerlob bedacht wurde. Wäre eine solche Herangehensweise nicht auch für die Kunstform des Romans im 20. Jahrhundert möglich? Schließlich sei der Roman die literarische Form des 20. Jahrhunderts, die uns aufzeigt, wer wir waren, wer wir sind und wozu wir fähig sind – so die Argumentation von Edwin Frank. 

Mit seinem Buch »Stranger than Fiction« hat er dieses Experiment gewagt: Auf über 450 Seiten stellt er 33 Romane und Sammlungen von Kurzgeschichten oder Novellen vor. (Hier eine vollständige Auflistung der vorgestellten Werke). Auftakt zu dieser chronologisch angeordneten Vorstellung bildet Dostojewskis Roman »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«, der erstmals 1864 erschienen ist – lange also vor dem eigentlichen 20. Jahrhundert. Frank nennt Gründe dafür: Zum einen haben Dostojewskis »Aufzeichnungen…« zahlreiche Autor*innen beeinflusst – von Franz Kafka bis Ralph Ellison. Der anonyme Erzähler bei Dostojewski wird zum Archetypen, zum modernen Mythos, der sich in den Werken von Knut Hamsun, Jean Rhys oder Thomas Bernhard wiederfindet. 

Im Hinterhalt der Geschichte

Zum anderen nennt Frank Dostojewskis Erzähler eine »Stimme des 20. Jahrhunderts.« Diese Stimme steht im Fadenkreuz der Geschichte. Er schreibt:

»Wie der Verfasser der »Aufzeichnungen«, wie Dostojewski auf dem Semjonowoski-Platz werden die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts von der Geschichte in den Hinterhalt gelockt. Sie leben in einer Welt, in der das dynamische Gleichgewicht zwischen dem Selbst und der Gesellschaft, das der Roman des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten suchte, nicht mehr aufrechterhalten werden kann, nicht einmal als Fiktion.«

(Seite 23, Übersetzung von mir) 

Kurz zur Erinnerung: Auf dem Semjonowski-Platz sollte Dostojewski im Dezember 1849 erschossen werden, was sich schließlich als Scheinhinrichtung herausstellte. Er wurde danach in die Verbannung geschickt. 

Das Gleichgewicht oder der Ausgleich zwischen dem Selbst und der Gesellschaft – in den Romanen des 20. Jahrhunderts existieren sie nicht mehr. Dies ist für Frank ein entscheidender Unterschied zwischen den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts und denen des 20. Jahrhunderts. Zudem wurde der Roman spätestens seit Beginn des 20. Jahrhundert zu einer auch kommerziell erfolgreichen Gattung. Die wachsende Beliebtheit war unter anderem auch den ansteigenden Zahlen von Übersetzungen geschuldet. Literatur wurde zur Literatur der Welt, zur Brücke in fremde Länder, weil der Stolperstein der Sprache genommen wurde. 

Eine persönliche Auswahl

Edwin Franks Einordnung und Erläuterung zu Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« bilden, wie erwähnt, den Auftakt seiner Analyse dessen, was im Untertitel als »Lives of the Twentieth-Century Novel« bezeichnet wird – also die »Leben des Romans im 20. Jahrhundert.« Die Dramaturgie seiner Literaturgeschichte baut er – Aristoteles winkt freundlich vom Seitenrand aus – in drei Teile auf: »Breaking the Vessels« (1. Teil, was als das »Zerbrechen der Gefäße« übersetzt werden kann, ein Ausbruch aus den bisherigen Erzählkonventionen), »A Scattering of Sparks« (2. Teil, der Funkenregen – hier finden sich unter anderem Werke aus und über den Krieg) und »The Withdrawal« (3. Teil, der Rückzug, in dem es um Werke geht, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind). Als Epilog gibt es abschließend noch eine Analyse zu W.G. Sebalds »Austerlitz« (2001 erschienen) und einige Ausblicke auf die Zukunft des Romans. 

Dass es ausgerechnet 33 Romane/Novellen/Sammlungen von Kurzgeschichten sind, mag Zufall sein. Denkt man sich jedoch die 19 – für das 20. Jahrhundert – davor, dann wähnt man schon ein wenig Zahlenmystik am Werk. Wichtiger ist selbstverständlich, wie Edwin Frank seine Auswahl begründet. 

»Einige dieser Bücher gelten als kanonisch, aber das ist es nicht, was mich an ihnen interessiert, genauso wenig wie die Erstellung eines Gegen-Kanons aus verfemten Texten. Ich interessiere mich nicht dafür, was Bücher auf die eine oder andere Weise beweisen (und letztendlich ist es vermutlich nichts), sondern für ihren Realismus und ihre Wirkung auf den Buchseiten. Das ist es, was ich versucht habe, herauszuarbeiten. Die Auswahl ist außerdem persönlich. Ich habe über Bücher geschrieben, die mich bewegen, und dabei immer Randall Jarrells freundlichen Spott im Hinterkopf behalten, dass ein Roman eine lange Geschichte ist, in der etwas nicht stimmt.«

(Seite XVIII, Übersetzung von mir) 

Zwischen Analyse und Anekdoten 

Es sind Bücher, die wiederholt Dissonanzen beinhalten oder aufzeigen – die Entfremdung und Distanz zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese persönliche Auswahl umfasst entsprechend kanonische Werke wie Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, Joyces »Ulysses« und Woolfs »Mrs. Dalloway«, daneben eben auch unbekanntere Werke wie »Die andere Seite« von Alfred Kubin, »Kokoro« von Natsume Sōseki und »Artemisia« von Anna Banti. Erstaunlich viele Werke sind in deutscher Sprache verfasst worden: Von den 33 vorgestellten Büchern sind sechs im Original in Deutsch verfasst worden, mit Hans-Erich Nossacks »Der Untergang« (1948 erschienen) sogar ein hierzulande eher unbekanntes Buch. 

In jedem Kapitel stellt Frank ein oder zwei Bücher genauer vor: Er referiert die Handlung, beschreibt biographische Bezüge der jeweiligen Autor*innen und bindet zeitgenössische Kritiken ein. Jede Buchanalyse würde sich auch als Nachwort zum jeweiligen Werk eignen. Edwin Frank verzichtet auf eine akademische Sprache – wichtiger ist es ihm, den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext zu erschließen und die zum Teil verborgenen oder unbewussten Verbindungen der Werke und Autor*innen untereinander ans Licht zu holen. Hier ist jemand am Werk, der klug, mitreißend und gelegentlich auch humorvoll über Literatur schreiben kann. 

Kurze Anekdoten – etwa, warum es sich D.H. Lawrence mit E.M. Forster und Bertrand Russell verdorben hat – sind eingebettet in ausführliche Werkanalysen. So stellt er von Lawrence mit »Sons and Lovers« sowie »The Rainbow« gleich zwei Werke des gleichen Autors vor und arbeitet ihre zahlreichen Facetten – (Anti-)Bildungsroman, Familiengeschichte, sexuelle Befreiung und Klassismus – nachvollziehbar heraus. 

Lust auf die Lektüre

Franks Einordnungen und Urteile über die jeweiligen Werke fallen auffällig und angenehm zurückhaltend aus. Er ist keine Literaturkritiker im feuilletonistischen Sinn, sondern er erläutert elegant die Relevanz des Buches im Kontext von Zeit- und Literaturgeschichte. Wie zum Beispiel zu Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

»Diese kompromisslose Spannung zwischen absoluter Notwendigkeit und völliger Zufälligkeit – eine Spannung zwischen zwei grundlegenden Arten, das Geschehen zu erklären – brachte das wohl schönste Buch des 20. Jahrhunderts hervor, das von größter Neugier und tiefstem Mitgefühl zeugt und das, angesichts seiner sozialen und persönlichen Isolation vielleicht überraschenderweise, die meiste Lebenserfahrung enthält. Es ist jedoch schwer zu glauben, dass das Buch uns ohne den Krieg so sehr beeindrucken würde.«

(Seite 176, Übersetzung von mir) 

Edwin Frank schafft mit seiner Literaturgeschichte »Stranger than Fiction« etwas, was sogenannten »Literatur- oder Romanverführern« im deutschsprachigen Raum eher selten gelingt: Einen analytischen Zugang zur Literatur, jenseits von Nostalgie, Besserwisserei oder blindwütigem Bildungsauftrag. Ein Zugang, der einfach Lust auf die Lektüre der besprochenen Bücher weckt.  Gerade deshalb wäre eine Übersetzung ins Deutsche wünschenswert – nicht nur, weil sechs deutschsprachige Werke besprochen werden. Franks Blick fokussiert sich auf sympathische und lesenswerte Weise immer wieder neu zwischen Nah und Fern und das in einem sprachlichen Sound, der so im deutschen Feuilleton nicht zu finden ist. Und damit zurück zur Musik. 

Bibliographische Angaben:

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:

Frank, Edwin: Stranger than Fiction : Lives of the Twentieth-Century Novel. – London : Fern Press, 2024. – 451 Seiten. – ISBN 978-1-911-71720-1. – £ 25.00

Eine deutsche Übersetzung ist mir zum jetzigen Zeitpunkt (August 2025) nicht bekannt. 

Weiterführender Link:

Buchcover »Stranger than Fiction« von Edwin Frank
Edwin Frank: »Stranger than Fiction«

Schönes Lesen noch!

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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