Liebeserklärung an eine literarische Seifenoper
»But if you want to know
The Andrea True Connection – More, More, More (1976)
How I really feel
Get the cameras rolling
Get the action going
Baby you know my love for you is real
Take me where you want to
Then my heart you’ll steal«
Es geschah am 10. April 1993. An das Datum kann ich mich genau erinnern, weil ich zu dieser Zeit die Macke hatte, in jedes neue Buch, das in meinen Besitz gelangte, das Datum zu vermerken. Und ich kann mich auch noch an den Ort unserer ersten Begegnung erinnern. Es war der kleine Zweitausendeins-Laden in der Grindelallee im Hamburger Univiertel, den es heute längst nicht mehr gibt. In diesem engen Raum, in dem sich, wie an jedem Samstag, viele Kunden drängten, stand ein Buch in den Verkaufsregalen, das mit seinem blau-bunten Umschlag meine Aufmerksamkeit erheischte: »Stadtgeschichten« von Armistead Maupin. Erschienen war der erste Band dieser Fortsetzungsgeschichten im Hamburger Verlag Roger & Bernhard, ins Deutsche übersetzt von Heinz Vrchota. Roger & Bernhard, deren Bücher damals exklusiv über Zweitausendeins vertrieben wurden, hatte ein Verlagsprogramm, das mich schon länger faszinierte. Einige Jahre zuvor veröffentlichte der Verlag die »Mapp & Lucia« Romane des Briten E.F. Benson, die zu einer ganz großen Leseliebe meines Lebens wurden. Und vielleicht kein Zufall, dass es Roger & Bernhard waren, die diese Bücher in deutscher Übersetzung veröffentlichte, denn Bensons Hexalogie kann durchaus als ein früher Vorläufer der Seifenopern gesehen werden, wie auch Maupins »Tales of the City« durchaus den Charakter einer Seifenoper tragen.
An jenem April-Tag also zogen die Bewohner der Barbary Lane 28, San Francisco, in mein Leben ein. Oder vielmehr sollte ich sagen: Ich wurde virtuell ein Mitbewohner dieser schrägen und liebevollen Hausgemeinschaft. Bis zum April des darauf folgenden Jahres erschienen alle Bände der »Stadtgeschichten«, die mit dem sechsten Band, bezeichnenderweise im Deutschen mit dem Titel »Schluß mit Lustig« (engl.: »Sure of You«), ihren vorläufigen Abschluss fanden. In den Jahren danach, die deutschen Taschenbuchausgaben erschienen im Rowohlt-Verlag, wurden die »Tales« zu dem, was ich »Sonntagsbücher« nenne. Immer wieder griff ich zu den Geschichten, gerade in Zeiten, in denen es mir nicht so gut ging. Die Bewohner der Barbary Lane 28, jenem alten, ehrwürdigen Haus auf dem Russian Hill, in dem die trans Frau Anna Madrigal ihre ganz eigene Familie erschuf, waren und sind Seelenverwandte. Die ehrgeizige, charmante Mary Ann Singleton, die in den Medien Karriere machte, der schwule, etwas tollpatschige Michael ‚Mouse‘ Tolliver, dessen jungenhaftem Charme ich kaum widerstehen konnte, der knackige, wenn auch etwas machohafte Brian Hawkins, die verwirrte, eigensinnige Mona Ramsey, die leibliche Tochter von Anna Madrigal – sie alle wurden meine literarische Ersatzfamilie, ein Familie, die ich so nie hatte und mir doch sehr gewünscht hätte. Sie alle tragen Charakterzüge, in denen ich mich selbst wieder erkenne. Dazu eine ganze Reihe von Nebenfiguren – DeDe Day, D’orothea Wilson, Jon Fielding oder Burke Andrews – die diesen Kosmos bereichern und ihm Kontrast und Farbe geben.
In einer Kritik, die am 14. Dezember 1993 im Hamburger Abendblatt erschien – die Veröffentlichung der deutschen Übersetzungen war noch nicht abgeschlossen – vermerkt Armgard Seegers folgendes:
»Zwar erschafft der Autor keine literarischen Sprachbilder, die nach Ambition riechen, und seine Helden erlebten ihren Erstabdruck auch nur auf Zeitungspapier statt in einer noblen Hardcover-Ausgabe – verwandt sind sie eher mit den Filmfiguren Robert Altmans. Doch ihr mitreißendes Schicksal, ihre Lebendigkeit, Leidenschaftlichkeit und Leidensfähigkeit stellt sie allemal in eine Reihe neben Nana oder Franz Biederkopf. (…) In der deutschsprachigen Literatur fehlt ein solches detailversessenes zeitnahes Sittengemälde jedenfalls völlig.«
Armgard Seegers: Der Balzac unserer Zeit: Armistead Maupin
Ich befürchte, gerade mit ihrer letzten Aussage hat sie bis heute Recht. Ob man die »Tales of the City« als literarisch wertvoll ansehen mag, ist mir gleichgültig. Sie sind, durch ihre niedrige Identifikationsschwelle mit den Figuren, menschliche und realitätsnahe Geschichten, erzählt mit künstlerischen Zuspitzungen, Dramen und Übertreibungen, die diese Bücher so greifbar, so nachvollziehbar machen. Es sind unterhaltende und zugleich tiefsinnige Einblicke in die Zeit der 1980er und 1990er Jahre. Wer allerdings so unbeschwert und unterhaltend erzählt, kommt im Land der Dichter und Denker arg schnell in den Geruch, »unliterarisch« zu sein. Solchen Kritikern erwidere ich dann gerne: »Eat your heart out, bitches!«
Aufgeklärter Humanismus
Wobei ich Armistead Maupin und seine »Tales of the City« auch nicht verteidigen brauche. Gelesen wurde und wird er von Millionen Lesern, in den 1990er Jahren avancierte er durch seine Geschichten in England zu einem literarischen Rockstar. Und die Lektüre ist durchaus bildend: Wo sonst, wenn nicht im dritten Teil der Serie »Further Tales of the City« (dt.: »Noch mehr Stadtgeschichten«) hätte ich von den Diomedes-Inseln erfahren, dem Punkt, an dem sich die erbitterten Gegner des Kalten Krieges, die Sowjetunion und die USA, sehr nahe sind. Maupin führt in dieser Episode die Absurdität dieser Rivalität auf beeindruckende Weise vor.
Er seziert die Bigotterie der Reagan-Administration, die in einer menschenverachtenden Gleichgültigkeit auf die AIDS-Krise der 1980er-Jahre reagiert – oder vielmehr nicht reagiert. Er zeigt an mehreren Stellen seiner Serie die Widerlichkeit von religiösen Fanatikern auf, sei es die der verblendeten Schönheitskönigin Anita Bryant, die mit ihrer homophoben Kampagne Leichtgläubige gegen die schwule Emanzipation aufwiegelt, oder sei es der Sektenführer Jim Jones, dessen Narzissmus Hunderten seiner Anhängern das Leben gekostet hat.
Letzteres zeigt, wie aktuell die »Tales« heute noch sind. Die Ereignisse, die Maupin schildert, sind zwar Zeitgeschichte, aber ihre Muster sind in diesen Zeiten des gesellschaftlichen Rollbacks immer noch zu erkennen und funktionieren leider immer noch. Was Maupin dem entgegenstellt, ist sein aufgeklärter Humanismus, seine Menschenliebe – ohne dabei ins Gefühlsduselige abzugleiten. Am eindrucksvollsten geschieht dies in dem legendären Brief, den der schwule Michael Tolliver an seine Eltern schreibt. »Letter to Mama« (im zweiten Teil der Serie »More Tales of the City«, dt.: »Mehr Stadtgeschichten« enthalten), sollte eigentlich Pflichtlektüre an den Oberstufen deutscher Schulen werden.
Gerade weil diese Geschichten immer noch ihre Wirkung haben, möchte ich in den kommenden Monaten bei meiner Regalreise diese Bücher erneut lesen. Neben den sechs ursprünglichen Bänden hat Armistead Maupin zwischen 2007 und 2014 drei weitere Romane veröffentlicht, die die weiteren Lebenswege seiner drei Hauptfiguren – Michael Tolliver, Mary Ann Singleton und Anna Madrigal – nachzeichnen. Diese Bücher habe ich bislang noch nicht gelesen, wobei ich mich vermutlich gewehrt habe, tatsächlich endgültig Abschied zu nehmen von meinen Lesebegleitern und von meiner fiktiven Familie, in der ich mich immer so aufgehoben gefühlt habe. Doch auch ich bin älter geworden und deshalb ist es an der Zeit, noch einmal in die Barbary Lane 28 zu gehen und nachzuschauen, wie es Michael, Mary Ann und Anna ergangen ist. Wenn Ihr mögt, seid dabei.
Bibliographische Angaben
Zur Übersicht meiner Regalreise findet Ihr hier die Übersicht über alle Bände der »Tales of the City«, die ich lesen möchte. Angegeben sind die englischsprachigen Ausgaben, die in meinen Regalen stehen, dazu der Verweis auf die deutsche Übersetzung
- Band I:
Armistead Maupin: Tales of the City. – London : Black Swan, 1989
ISBN 973-0-552-77624-0
dt.: Armistead Maupin: Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993
ISBN 3-8077-0265-2 - Band II:
Armistead Maupin: More Tales of the City. – London : Black Swan, 1989
ISBN 978-0-552-99877-2
dt.: Armistead Maupin: Mehr Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993
ISBN 3-8077-0266-0 - Band III:
Armistead Maupin: Further Tales of the City. – London : Black Swan, 1988
ISBN 978-0-552-99878-9
dt.: Armistead Maupin: Noch mehr Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993
ISBN 3-8077-0267-9 - Band IV: Armistead Maupin: Babycakes. – London : Black Swan, 1988
ISBN 978-0-552-99879-6
dt.: Armistead Maupin: Tollivers Reisen. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993
ISBN 3-8077-0268-7 - Band V:
Armistead Maupin: Significant Others. – London : Black Swan, 1989
ISBN 978-0-552-99880-2
dt.: Armistead Maupin: Am Busen der Natur. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993
ISBN 3-8077-0269-5 - Band VI:
Armistead Maupin: Sure of You. – London : Black Swan, 1991
ISBN 978-0-552-99881-9
dt.: Armistead Maupin: Schluss mit Lustig. – Aus dem Englischen von Heinz Vrchota. – Hamburg : Roger & Bernhard bei Zweitausendeins, 1994
ISBN 3-8077-0270-9 - Band VII:
Armistead Maupin: Michael Tolliver Lives. – New York : HarperCollins, 2007
ISBN 978-0-06-076135-6
dt.: Armistead Maupin: Michael Tolliver lebt : die neuesten Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Michael Kellner. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2008
ISBN 978-3-498-04509-8 - Band VIII:
Armistead Maupin: Mary Ann in Autumn. – New York : HaperCollins, 2010
ISBN 978-0-06-147088-2
dt.: Armistead Maupin: Mary Ann im Herbst : die allerneuesten Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Michael Kellner. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2012
ISBN 978-3-498-04521-0 - Band IX:
Armistead Maupin: The Days of Anna Madrigal. – New York : HaperCollins, 2014
ISBN 978-0-06-219624-8
dt.: Armistead Maupin: Die Tage der Anna Madrigal : die letzten Stadtgeschichten. – Aus dem Englischen von Michael Kellner.- Reinbeck bei Hamburg : Rowohlt Taschenbuchverlag, 2017
ISBN 978-3-499-29016-9