Der Mann, der einen Kindle erschoss – Shaun Bythells »The Diary of a Bookseller«

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»Let’s read
you don’t stop
read the novel 
that makes your body rock.«

The Bookshop Crew – Reader’s delight (2015)

Bücher über Eisenbahnen sind der Renner im Antiquariat von Shaun Bythell. Wenn Eisenbahnfreunde, die offenbar gut untereinander vernetzt sind, erfahren, dass er eine Bibliothek oder Sammlung aufgekauft hat, sind die frisch aufgefüllten Regale im »Book Shop« auch schnell wieder leer.  Bestseller von J. K. Rowling, Dan Brown oder Tom Clancy laufen dagegen nicht so gut. Kunden, die ihre Bücher Bythell anbieten, verstehen auch nicht, dass ihre Erstausgabe von »Harry Potter and the Deathly Hallows« nicht viel wert ist, schließlich gibt es davon 12 Millionen.

Antiquarischer Buchhandel hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, die Shaun Bythell mit seinen Aufzeichungen »The Diary of a Bookseller« ein wenig erhellt. Antiquariate haben zum Beispeil ihre ganz eigene Kundschaft, die mal merkwürdig oder exzentrisch und dann auch wieder respektlos oder unverschämt auftritt. Antiquare wie Bythell brauchen ein dickes Fell, viel Geduld und einen starken Überlebenswillen. Denn Reichtümer lassen sich mit gebrauchten Büchern nicht erwirtschaften. 

Alltag im Antiquariat

Das war eigentlich schon immer so. Seltene Erstausgaben, kostbar gestaltete Editionen oder vom Autor signierte Exemplare sind rar. Stattdessen gedruckte Massenware, die von jedem Antiquar gefürchteten »Buch Club«- Ausgaben, theologische Traktate, für die sich niemand mehr interessiert oder ziemlich heruntergekommene Ausgaben, die stinken und dreckig sind. Seit sich der Online-Buchhandel ausgebreitet hat, haben sich die Bedingungen für Antiquariate noch einmal verschärft. Vor allem Amazon macht das Leben von Shaun Bythell schwer. Kunden, die in seinem Laden stehen und mit ihrem Handy herausfinden, dass es dieses oder jenes Buch bei dem großen Online-Händler ein paar Pence günstiger gibt. Trotz der Konkurrenz konnte sich Bythells Geschäft »The Book Shop« als größtes Antiquariat Schottlands behaupten. Zu finden ist er im kleinen Örtchen Wigtown, in dem laut Wikipedia 2011 gerade mal 921 Menschen lebten. Wigtown ist ein besonderes Dorf, denn seit 1998 trägt es den Titel »Scotland’s National Book Town«, also Schottlands nationale Buchstadt. Einmal im Jahr richten die 14 (!) örtlichen Buchhandlungen ein großes Buch- und Literaturfestival aus. 

Das Festival findet im Herbst statt und dauert etwa eine Woche. Doch was passiert während der restlichen Zeit? Ein Jahr lang hat Shaun Bythell Tagebuch geführt und gibt in »The Diary of a Bookseller« Auskunft über den Alltag in seinem Buchladen, über seine eigenwilligen Mitarbeiterinnen, über das Dorfleben und über seine Kundschaft. Akribisch notiert er jeden Tag, wie viele Online-Bestellungen es gab (Amazon ist eben nicht nur Fluch, sondern manchmal auch Segen), wie viele Bücher er in seinem Geschäft wiedergefunden hat (Bücher spielen gerne mal Verstecken), wie viel er eingenommen hat (Bilanzbuchhalter dürfen jetzt stöhnen) und wie viele Kunden im Laden waren. Gerade seine Beschreibungen der Kundenkontakte haben ihm auf Facebook einen gewissen Kultstatus eingebracht. Dort hat er die kuriosesten Begegnungen mit Käufern und Nicht-Käufern notiert. Die Folgen: Ein Paar kommt in das Antiquariat und die Frau sagt zu ihrem Mann oder Freund: »Benimm Dich, sonst landen wir auf seiner Facebook-Seite.«

Lektürenotizen zu »Diary of a bookseller« von Shaun Bythell
Lektürenotizen zu »Diary of a Bookseller« von Shaun Bythell

Neues Leben für alte Bücher

Bythell schreibt aber nicht nur diese mal drolligen, mal ärgerlichen Begegnungen auf. Tiefe bekommen seine Aufzeichnungen, wenn er darüber nachsinnt, welchen Weg manche Bücher genommen haben, wie sie in sein Geschäft gekommen sind und welche Vorbesitzer sie gehabt haben. Wenn er die Bibliotheken von älteren Menschen begutachtet, die ihren Haushalt auflösen wollen oder müssen, weil sie in ein Altersheim ziehen. Wenn er die Buchsammlungen von Verstorbenen anschaut und sich fragt, wie diese Menschen gelebt haben. Bücher erzählen neben ihren eigentlichen Geschichten auch die Geschichten ihrer Besitzer.

Im April kauft eine junge Italienerin eine zweibändige Ausgabe von Boccaccios »Decamerone« aus dem Jahr 1679. Die Ausgabe stand als Ladenhüter über zehn Jahre in seinem Antiquariat. Er erinnert sich, wo er sie erworben hat: Im Januar 2003 besichtigte er die heruntergekommen Wohnung einer verstorbenen Frau, die alleine gelebt hatte. Ihre Eltern: Ein italienischer Auswanderer und seine schottische Frau, die in den 1920er Jahren ein florierendes Café betrieben haben. Das »Decamerone« war, so vermutet es Bythell, eines der wenigen Dinge, die der Mann von seiner Familie aus Italien nach Schottland mitgebracht hat. Jetzt, mit dem Erwerb durch die junge Frau, bekommt das Buch nicht nur eine neue Besitzerin, es bekommt ein neues Leben. 

Shaun Bythell berichtet von den Begegnungen, die er mit verschiedenen Autorinnen und Autoren hat: Über Sara Maitland, die zu seinen Kundinnen zählt, über seine Freundschaft zum schottischen Dichter Alastair Reid und dessen Frau Leslie, die jährlich aus den USA kamen, um den Frühling in Schottland zu erleben. »The Diary of a Bookseller« ist mehr, als aneinander gereihte Kuriositäten aus dem Leben eines Buchhändlers. Es ist auch eine Studie über die Veränderungen im gesamten Buchbetrieb, über die Beziehungen zwischen Autorinnen und Lesern, über all das, was mit gedruckten Worten auf altem Papier zu tun hat. Die Menschen, die Wirtschaftlichkeit, die Geschichten hinter den Geschichten. 

Ein braunrötliches Rätsel

"Death to the Kindle"
cc-by-sa/2.0 - © Oliver Dixon - geograph.org.uk/p/4512490
„Death to the Kindle“
cc-by-sa/2.0 – © Oliver Dixon – geograph.org.uk/p/4512490
Der erschossene Kindle, der im Geschäft von Shaun Bythell hängt

Dass Amazon dabei schlecht wegkommt, ist nicht verwunderlich. Zu sehr sind mittlerweile Antiquariate, die ihre Bücher als Reseller bei Amazon oder AbeBooks (das zu Amazon gehört) weltweit verkaufen können, von dem Online-Händler abhängig. Und Amazons E-Book-Reader Kindle ist ein besonderes Hassobjekt von Shaun Bythell. Er verabscheut ihn so sehr, dass er einen – bereits defekten – Kindle kurzerhand erschossen hat. Das »Opfer« hängt als markante Trophäe in seinem Laden. 

Shaun Bythell ist ein eigenwilliger Typ mit Ecken und Kanten. Es ist nicht verwunderlich, dass ihn manche seiner Freunde »Big Ginger Conundrum« nennen, was man wohl als großes, braunrötliches Rätsel übersetzen könnte. Er ist einer, der sich den Herausforderungen seiner Branche stellt, er ist auf den sozialen Netzwerken unterwegs, er verkauft eben nicht nur einfach bedrucktes und gebundenes Altpapier, sondern umrandet dies mit zahlreichen Aktivitäten. Trotz der Konkurrenz und des wirtschaftlichen Drucks ist er einer, der alten Büchern eine neues Leben schenkt. »The Diary of a Bookseller« zeugt davon, dass Buchhändler und Antiquare ihren eigenen Weg finden können, um dem Online-Handel zu trotzen. Ob das künftig erfolgreich bleibt, weiß niemand. Das hängt dann vor allem von einer Gruppe ab: Den Buchkäuferinnen und Buchkäufern, die solche Arbeit wertschätzen. 

Bibliographische Angaben

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Shaun Bythell: The Diary of a Bookseller. – London : Profile Books, 2017
ISBN 978-1-78125-862-0

Die deutsche Übersetzung des Buches durch Mechthild Barth ist für August 2019 bei btb angekündigt. 

Weiterführende Links

Soundtrack zum Buch

Der oben zitierte Song heißt »Reader’s delight«, basiert auf »Rapper’s delight« der Sugarhill Gang (1979) und wurde von der Crew des Bookshops umgetextet. Das Video zum Song gibt es bei YouTube zu bewundern

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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