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Rückkehr ins Land der Lebenden – Über den Roman »Unmerklicher Verlust der Einsamkeit« von Eli Beneš

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Wie überlebt man als Insasse ein Konzentrationslager und wie findet man zurück ins Leben? Um diese Fragen dreht sich der Debütroman »Unmerklicher Verlust der Einsamkeit« des tschechischen Autors Eli Beneš. Seine Erzählung über den 17-jährigen Petr schillert dabei zwischen absoluter Finsternis und jugendlicher Naivität und Leichtigkeit. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. 

Mai 1945: Der 17-jährige Petr Stein kehrt zurück in seine Heimatstadt Prag. Er ist der Hölle des KZ Auschwitz entkommen und kann während eines sogenannten «Todesmarsches» vor den Schergen der SS flüchten. Seit dem Sommer 1944 zeichnete sich die Niederlage der deutschen Wehrmacht immer deutlicher ab, also wurden verstärkt verschiedene Konzentrationslager in der Nähe der Frontlinien geräumt. Die zumeist erschöpften Insassen starben auf diesen langen Märschen an Kälte, Hunger oder wurden von den Wachmännern am Wegesrand erschossen.

Im Roman schafft es der ausgehungerte Petr den Wachleuten zu entkommen und mit einem Güterzug, der mit Kohle beladen ist, nach Prag zu fahren. Vor der Deportation lebte er hier zusammen mit seinen Eltern Ema und Jan sowie seinem jüngeren Bruder Míša. Er sucht die ehemalige Familienwohnung auf, die mittlerweile von einer anderen Familie bewohnt wird. Der Zugang zur Wohnung wird ihm von den neuen Bewohnern verwehrt, im Haus trifft er allerdings auf eine ältere, ehemalige Nachbarin, die sich an ihn erinnert. 

Sehnsüchtig wartet Petr auf die Rückkehr seiner Familie. Zugleich muss er seine Identität nachweisen und gültige Papiere bekommen, was in den Wirren des Nachkriegschaos und der tschechischen Bürokratie nicht so einfach ist.  Da die Familienwohnung belegt ist, findet er mit Hilfe einer Bekannten aus der jüdischen Gemeinde Unterkunft in einer Gemeinschaftswohnung. Hier lebt er mit Izák, einem jüdischen Soldaten, dem blonden Jungen Emil und Ruda, einem glühenden Anhänger des aufkommenden Kommunismus. Durch gemeinsames Boxtraining werden Izák und Petr zu Freunden, während die Bekanntschaft zu den anderen beiden Mitbewohnern oberflächlich bleibt. Betreut werden die jungen Männer von der Frau aus der jüdischen Gemeinde, Frau Abelesová. 

Die Einsamkeit des Überlebenden

Petr versucht sich einerseits in seinem neuen Leben zurechtzufinden, andererseits forscht er verzweifelt nach seiner Familie und träumt von der Rückkehr zu seinem alten Leben. So wünscht er sich, dass er wieder zu seiner alten Schule gehen könne – doch von seiner alten Klasse ist niemand mehr da. Auch die ehemalige Synagoge seiner Gemeinde ist fast verwaist. Die Leerstellen in Petr’s Leben werden größer. Geradezu manisch hört er die Suchmeldungen im Radio und durchkämmt die Suchanzeigen in den Zeitungen – vergeblich. Flashbacks suchen ihn heim, er erinnert sich an grausame Begebenheiten im KZ oder während der Flucht. Mit seinem Trauma bleibt er allein – bis er die junge Ilse kennenlernt. 

Wie er lebt Ilse in einer Gemeinschaftsunterkunft für elternlose Jugendliche und wie Petr ist sie jüdisch. Sie gehen ab und zu gemeinsam aus, trinken Kaffee oder schauen Filme im Kino. Petr verliebt sich in Ilse, doch sie ist gebürtige Deutsche. Zu dieser Zeit war alles Deutsche in Tschechien verboten oder verdrängt, Deutsche wurden aus der Tschechoslowakei vertrieben. So droht auch ihr als deutsche Jüdin der Abtransport nach Deutschland. Petr fasst den Plan, sie zu heiraten, doch dazu kommt es nicht mehr. Den plötzlich ist Ilse spurlos verschwunden. In seiner Trauer um seine Geliebte ereilen ihn die nächsten Schicksalsschläge: Sein Freund Izák erhängt sich. Dann erreicht ihn ein Brief des Ministeriums, das »höchstwahrscheinlich« den Tod seiner Familie bestätigt.

Fesselnder und faktenbasierter Realismus

Wieviel Schmerz, wieviel Verlust, wieviel Trauer kann ein Mensch ertragen? Ohne zu viel von der weiteren Geschichte vorweg zunehmen – der vorletzte Teil des Romans trägt die Überschrift »Aufs Leben!«. Dieses Leben führt ihn am Ende und nach einer Odyssee durch Europa nach Israel. Das Leben und Überleben, betont Autor Eli Beneš immer wieder in Interviews, sei der Mittelpunkt seines Buches. Vordergründig mag  »Unmerklicher Verlust der Einsamkeit« wie ein historischer Roman über die düsteren Ereignisse im Holocaust und der Nachkriegsgeschichte erscheinen. Er erzählt die fiktive Geschichte von Petr Stein, die auf vielen Berichten und Erzählungen von Zeitzeugen basiert. Beneš hat für seine ausgefeilte und spannend zu lesende Fiktion umfangreiche Recherchen durchgeführt. Zum Teil in Gesprächen mit Zeitzeugen, zum Teil in Archiven, zum Teil aber auch in literarischen Vorlagen wie etwa von Primo Levi oder Arnošt Lustig

Hier zeigt sich das erzählerische Können von Eli Beneš: Aus den recherchierten Fakten gestaltet er eine ergreifende Geschichte mit zum Teil drastischen Schilderungen. Der nüchterne und sachliche Ton des Ich-Erzählers Petr erschafft einen Realismus, der beeindruckend, berührend und bedrückend ist. Erzählerisches Gerüst sind dabei genau beobachtete Beschreibungen von Orten, Figuren und Erlebnisse. Trotz der unerträglichen Grausamkeiten gelingt es Beneš, durch die jugendliche Leichtigkeit seines Ich-Erzählers, dem Grauen des Holocausts etwas entgegenzusetzen. Das Buch wird so zu einem ermutigenden Bildungsroman und einer Coming-of-Age-Geschichte, in dem die Widerstandsfähigkeit von Petr nachvollziehbar und am Ende positiv dargestellt wird. Dabei verliert der Autor jedoch nicht aus dem Blick, dass nicht jeder, der ein KZ überlebt hat, über soviel Resilienz wie Petr verfügt. Der tragische Freitod von Izák ist ein Beispiel dafür. 

Hoffen auf eine Wiederbegegnung 

In Zeiten, in denen nationalistische und faschistische Tendenzen zunehmen, ist Eli Beneš ein bedeutender und lesenswerter Roman gelungen, der durch seinen differenzierten Blick auf historische Ereignisse ausstrahlt auf unsere Gegenwart. Mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus war der Antisemitismus längst nicht verschwunden – weder in Deutschland noch in der damaligen Tschechoslowakei. Auch die Vertreibung war damit nicht beendet. Deren Folgen sind bis heute zu spüren. 

Bemerkenswert an dem Roman ist nicht zuletzt, dass ein junger Mann wie Petr ein hohes Identifikationspotenzial besitzt. Dies könnte den Roman für jüngere Leser*innen interessant machen, um besser zu verstehen, was damals geschehen ist. Die gelungene Gestaltung des Buches trägt dazu bei: Glänzender Sprühlack des Titels, eingerahmt mit den Vornamen der wichtigsten Figuren und ein durchgängig schwarzer Farbschnitt mit leichtem Glitzern lassen das Buch wie ein Kohlebrikett erscheinen. Hier wird der bei jungen Leser*innen so beliebte Farbschnitt wirklich einmal sinnvoll eingesetzt. 

Einige kritische Stimmen merkten an, dass der Roman zu lang sei. In meiner Lesart eine Fehleinschätzung, denn ich möchte kein Detail, keine Szene und keine Beschreibung missen. Sie verstärken die Tiefe des Romans und nicht wenige von ihnen sind mir im Gedächtnis geblieben. Erfreulich, dass Eli Beneš angekündigt hat, dass »Unmerklicher Verlust der Einsamkeit« der Auftakt zu einer Trilogie  sein soll. Ich darf mich freuen und hoffe auf eine Wiederbegegnung mit Petr und Ilse. 

Bibliographische Angaben:

Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Eli Beneš: Unmerklicher Verlust der Einsamkeit. – Aus dem Tschechischen von Raja Hauck. – Düsseldorf : Karl Rauch Verlag, 2025. – 685 Seiten . – ISBN 978-3-7920-0293-3. – 32.- €

Bibliographische Angaben zur tschechischen Originalausgabe: (keine Autopsie)
Eli Beneš:  Nepatrná ztráta osamělosti. – Prag : Nakladatelství Akropolis, 2023. – 
ISBN: 978-80-7470-469-7

Eli Beneš: Unmerklicher Verlust der Einsamkeit
Eli Beneš: Unmerklicher Verlust der Einsamkeit

Schönes Lesen noch!

Über den Nachtbibliothekar

Karl Ludger Menke

human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | head of a public library since 2022 | t.b.c.

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